Schade, dass sie sich nicht gekannt haben, die junge Autorin Sabine Gruber aus Lana und der nicht mehr so junge Kybernetiker Valentin von Braitenberg aus Bozen. Er ist leider im heurigen Sommer im 85. Lebensjahr am 9. September 2011 verstorben, in Tübingen, am Ort seiner Tätigkeit, der Universität und des Max Planck Institutes, dem er Jahrzehnte lang vorgestanden hat. Er war Hirnforscher, eine internationale Kapazität und er hätte sich bestens mit der erfolgreichen Buchautorin Sabine verstanden. Der Valentin wäre für sie ein Genusspartner gewesen, zumal er Zeitzeuge jener Geschehnisse aus der Hitlerzeit war, die im Werk der Autorin immer wieder aufscheinen.
Sabine Gruber kreuzt in ihrem 2011 bei C.H. Beck in München erschienenen Buch „Stillebach oder die Sehnsucht“ auf hoher historischer See, auf dem deutsch-italienischen Kriegsschiff, das 1945 krachend versank. Aber auch spätere Konflikte werden hier analysiert, politische Strömungen ebenso wie kulturelles Eintauchen. Ein europäisches Panoptikum, „Surfen“ in Erinnerungen und Fiktionen, was im „Spiegel“ (Nr. 30/11 S. 113) in der Literaturspalte als Vexierspiel von Dichtung und Wahrheit bezeichnet wird. Gruber bietet „eine literarische Erinnerungsreise durch 70 Jahre italienischer, südtiroler und deutscher Geschichte, in der sie drei Zeiten, drei Welten und drei Frauenleben ... ineinander verwebt.“
Als Dozentin für Literatur in Venedig hat sie sich auch mit dem italienischen Dichter und Patrioten Gabriele D‘Annunzio beschäftigt. Die Frauen, die Gabrieles Gunst genießen durften, gelangten in sein Schlafzimmer nur durch eine niedrige Maueröffnung und mussten sich ihm kniend nähern. Diese Arroganz reizt natürlich. Genüsslich schreibt Sabine über diesen eitlen, wenn auch wichtigen Dichter, dass er eigentlich Rapagnetta hieß, was „kleine Rübe“ bedeutet - so wird über diesen Mann, dem gespielten Renaissancefürsten, gewitzelt. Sein alter Name wird abgelegt; auf Vorschlag der faschistischen Regierung wurde Gabriele D‘Annunzio 1924 durch König Viktor Emanuel III. geadelt und bekam den Titel Principe di Montenevoso.
Sabine Gruber, die mittlerweile als freie Schriftstellerin in Wien lebt, wurde im Sommer 2011 von Mitarbeitern des Südtiroler Kulturinstitutes zu einer Kulturfahrt in den Vinschgau eingeladen; dabei hat sie erstmals Kostproben aus ihrem neuen Buch gelesen und Erklärungen zum Titel gegeben. „Stillbach“ ist ein fiktiver Ort in den Alpen, vielleicht im Vinschgau, vielleicht ist damit Stilfs gemeint. Sicher ist aber, dass sie bei aller Weltoffenheit und Weltneugierde immer wieder von der „Sehnsucht“ geleitet wird.
Welt und Heimat, diese verschiedenen Blickwinkel veranlassen den Kritiker vom „Vexierspiel“ zu sprechen.Von Verwirrbildern, die je nach Haltung Verschiedenes zeigen: Eine betende Heilige, eine nackte Frau und vielleicht auch noch eine Frau in der Küche?
Sie schreibt auch von einem Südtiroler, der am italienischen Staatsfeiertag den Tirolerhut tragen wollte; er wurde ihm beim Spielen der Hymne „Giovinezza“ von einem italienischen Faschisten wütend vom Kopf gerissen. Die helfende Einmischung eines „Stillebachers“wurde als Provokation empfunden und mit drei Jahren Verbannung bestraft; das war im Jahr 1935.
Ähnliche Empfindlichkeiten kennen wir aus der Gegenwart. Ein für Italien sehr erfolgreich kämpfender Südtiroler Schiläufer wurde von einem Journalisten vergeblich nach dem Text der italienischen Nationalhymne befragt; daraus entwickelte sich in vielen Zeitungen fast ein nationaler Skandal. Il principe Montenevoso lässt grüßen!
Allerhand Hirngespinste wurden auch auf den Zenoburg in Meran geboren, zumal nach dem Erscheinen des Taschenbuches „Das Unterdach des Abendlands“ (ARUNDA 23/1988). Das Titelbild mit der Bibliothek der Zenoburg entstand nach einer Zeichnung von Elisabeth Braitenberg; betreut hat das Buch Valentin Braitenberg. Dieser Textband enthält über 30 Beiträge, die als Vexierbild der Tiroler Seele bezeichnet werden könnten. Nach Valentins Deutung ist das „Unterdach“ eine Sammlung von Kuriosa: Altes, Verstaubtes, Verrücktes, aber auch zu Unrecht „Abgestelltes“, dazwischen überraschend Neues, oder - nach langem Abliegen - wieder aktuell Gewordenes. Das Schloss, ganz Südtirol als Archiv, aber auch als Brutstätte neuer Denkansätze.
Worüber die Sabine gerne mit dem Valentin gesprochen hätte? Vielleicht über die Optionszeit, über Bozner „Dableiber“, die als Verräter des Deutschtums bezeichnet wurden. Sie durften nicht mehr „Bozen“ sagen und wurden, nach Einmarsch der deutschen Truppen im Jahre 1943, von Optanten auf der Straße zurechtgewiesen: „Für Euresgleichen heißt es nur noch Bolzano!“
Das hat der junge Braitenberg noch alles direkt miterlebt. Er wurde als „wehrunwürdig“ klassifiziert, aber trotzdem in den Kriegsdienst einbezogen und in Innsbruck in die gefährlichsten Operationen eingesetzt: Blindgänger der Fliegerbomben suchen und entschärfen.
Seine Toleranz ließ ihn darüber hinwegsehen; Risse und Narben in Bezug auf seine Südtiroler Heimat sind ausgeheilt. Seine Weltoffenheit wandte sich in Richtung Wissenschaft, zu Dichtung und Kunst, zur Musik. In Rom hat er eine Amerikanerin, seine spätere Frau Elisabeth, kennen gelernt, hat dort vorübergehend als Psychiater gearbeitet (war aber ein schlechter Geschäftsmann, wie sich seine Frau erinnert). Dann folgte die Berufung nach Neapel als Professor für Kybernetik am physikalischen Institut, später die Berufung nach Tübingen, wo sich sein wissenschaftliches Wirken voll entfalten konnte.
Braitenberg war ein Liebhaber des Vinschgaus und der Kulturzeitschrift ARUNDA, die nach einem Vinschger Berg benannt wurde und schreibt darin immer wieder und so auch im „Sonnenberg“:
Tausendjähriges Tal, über die Stauden weht
der Wind und verweht, was die Iren gesät
und bläst die Steine trocken, wo die Heiligen hocken
weht Staub über die Stühle gelehrter Kalküle
weht und bläst durch meine Moleküle
aber auch durch Dein Haar:
Arunda, du bist wahr.
Über Braitenbergs Lebenswerk und seinen geistigen Horizont wird demnächst ein Buch mit dem Titel „Tentakel des Geistes“ erscheinen und zwar in Koproduktion der ARUNDA und des Bozner Raetia Verlages.
Diese Publikation wird am Mittwoch, 7. Dezember 2011, um 18 Uhr in der EURAC, Drususstraße 1, in Bozen vorgestellt.
Ein wissenschaftlicher und persönlicher Freundeskreis hat sich seit Jahren mit der Ausarbeitung beschäftigt. Nun ist Valentin von Braitenberg aber kurz vor dem Erscheinen des Buches, mit dessen Inhalt er vertraut war, gestorben. Seinem Lebenswerk wird hiermit ein würdiges Denkmal gesetzt.
Hans Wielander
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