Ein paar winterliche Überlebensstrategien von Alpentieren und -pflanzen stelle in diesem Beitrag vor. Vereinfacht und in einer systematisierenden Übersicht kann man aktive und passive Überwinterer unterscheiden.
Von Wolfgang Platter, dem vormaligen Direktor des Nationalparks Stilfserjoch
Bei den Überwinterungsstrategien der Tiere in den Alpen können wir zwischen aktiven und passiven Überwinterern unterscheiden. Passive Überwinterer verschlafen den Winter an geschützten Plätzen oder fallen in bewegungslose Starre. Die Lebensfunktionen werden auf ein niedriges Energieniveau reduziert. Unter Verlust an Körpergewicht zehren die passive Überwinterer an ihren Energie-Reserven, welche sie sich in Form von Körperfett in der aktiven Phase ihres Biorhythmus´ angefressen haben. Aktive Überwinterer bleiben auch im Winter aktiv, drosseln aber diese ihre Aktivität, suchen geschützte Ruheplätze auf und versuchen, mit dem reduzierten Nahrungsangebot zu Rande zu kommen. Wiederholte Störungen der Tiere in diesen ihren winterlichen Lebensräumen können für die aktiven Überwinterer lebensbedrohlich werden, weil sie für ihre Flucht Energie verbrauchen, die sie aus dem knappen Nahrungsangebot nicht oder nur unzureichend ergänzen können. Der ökologisch gebildete, naturverbundene Schitourengeher, Schneeschuhwanderer, Eisfallkletterer meidet daher die Wintereinstände von Gebirgstieren.
Dem Winter ausweichen
Dem Winter auszuweichen ist eine weitere Überwinterungsstrategie. Dieser Strategie bedienen sich beispielsweise die Zugvögel. Zu den Zugvögeln gehören aus der heimischen Vogelfauna vor allem die Insektenfresser-Arten. Da es im Winter im Alpenklima keine Insekten gibt, würden diese Vogelarten verhungern. Dem Hungertod entgehen sie durch Abwanderung in südliche, wärmere Länder dies- und jenseits des Mittelmeeres. Kurzstreckenzieher wie die Bachstelze (Motacilla alba) kehren im Frühjahr zeitiger, schon ab Februar in ihr sommerliches Brutgebiet zurück. Infolge der Erderwärmung überfliegen manche Vogelarten schon nicht mehr das Mittelmeer, sondern überwintern in Südeuropa. Langstreckenzieher hingegen wie die Rauchschwalbe (Hirundo rustica), der Mauersegler (Apus apus), der Kuckuck (Cuculus canorus) und der Neuntöter (Lanius collurio) fliegen im Herbst in das subsaharianische Afrika und sind im Frühjahr Spätheimkehrer mit Rückkehr erst im Mai.
Wegfliegen als Überwinterungsstrategie gibt es nicht nur bei den Zugvögeln, sondern erstaunlicherweise auch bei den Schmetterlingen. Der Admiral (Vanessa atalanta) ist so ein weitfliegender Wanderfalter. Mit seiner Herbstpopulation überfliegt er das Mittelmeer nach Afrika und kehrt im Frühjahr mit einer neuen Generation in die Alpen zurück. Drei Viertel von den fast 7.400 in Südtirol beobachteten Tierarten gehören zu den Insekten als den wirbellosen Tieren (Invertebratae).Auch bei den Insekten gibt es verschiedenste Überwinterungsstrategien. Bei den Schmetterlingen ist das Überwinterungsstadium häufig das Ei oder die Puppe als Ruhestadien, nicht die Raupe als Fressstadium oder der Falter als Vollinsekt. Eine Ausnahme bildet der Zitronenfalter (Gonepteryx rhamni), der als Vollinsekt überwintert und unter den Tagfaltern eine der längsten Lebensdauern hat. Hummeln und Wespen bilden Sommerstaaten, im Herbst stirbt das Volk ab und es überwintert nur die befruchtete Königin, die im nächsten Frühjahr wieder einen neuen Saisonsstaat aufbaut. Honigbienen und Ameisen dagegen leben in Dauerstaaten: Es überwintert das ganze Volk, indem es bei den Honigbienen eine Wintertraube bildet oder sich bei den Ameisen in die tieferen frostfreien Bodenschichten unterhalb des Ameisenhügels zurückzieht. In der Bienentraube erzeugen die äußeren Bienen durch Flügelschlagen Wärme für die Bienen im Inneren der Traube. Bei Ermüdung wechseln sich die Bienen von außen nach innen ab.
Vorratshaltung
Der Tannenhäher, dialektal die Zirbmgratsch (Nucifraga caryocatactes) ist ein ganzjähriger Standvogel und als Bewohner des Bergwaldes eng an die Zirbe gebunden. Es gibt eine enge Symbiose zwischen dem Tannenhäher und der Zirbe: Der Vogel ernährt sich fast ausschließlich von Zirbelnüssen. Für den Winter legt er Nahrungsvorräte im Boden, zwischen Baumwurzeln, in Moospolstern oder Felsspalten an. Etwa 80% seiner bis zu 5.000 Nahrungsdepots kann der Tannenhäher in einer durch Schnee gegenüber dem Herbst in ihrem Aussehen völlig veränderten Landschaft wiederfinden. Der Wintervorrat besteht aus bis zu 100.000 Nüssen, was 3-5 kg Gewicht entspricht. Jene Zirbensamen, die der intelligente Rabenvogel nicht mehr finden kann, keimen im Frühjahr zu jungen Bäumchen aus. Wenn man im Bergwald einen dichten Pulk von Zirbenkeimlingen findet, verweist dies auf einen ganzen Zirbenzapfen mit seinen etwa zwei Dutzend Samen, den der Tannenhäher nicht mehr gefunden hat. Aus der engen Beziehung zwischen Futterbaum und Vogel wird der Tannenhäher auch als „Zirbenwaldgärtner“ bezeichnet: Die Zirbe bietet dem Vogel Nahrung, der Vogel trägt zur Verbreitung und Verjüngung des Zirbenwaldes bei. Aus nicht mehr aufgefundenen Verstecken wachsen Zirben auch an besonders extremen und hochgelegenen Standorten wie Felsspalten und -rissen mit kleinsten Humusvorräten als Mutterboden. Die Zirbe bildet an manchen Extremstandorten nach oben eine zerfranste Baumgrenze mit Einzelbäumen, weil der Tannenhäher seine Verstecke für die Zirbelnüsse unregelmäßig verteilt und auch weit oberhalb der geschlossenen Waldgrenze sucht.
Nahrungsumstellung
Flexibilität ist auch bei den Tieren eine evolutionäre Trumpfkarte. Insektenfressende Vögel wie die Kohlmeise (Parus major) und andere Meisen-Arten stellen im Winter auf ölhaltige Sonnenblumenkerne oder andere Sämereien um, die wir ihnen am Futterhäuschen anbieten. Durch diese Nahrungsumstellung können auch Vögel als Insektenfresser bei uns als Standvögel überwintern.
Der Rothirsch (Cervus elaphus) ernährt sich im Sommer zu 85% aus Gräsern und zu 15% aus Kräutern, im Winter sinkt der Anteil der Grasnahrung auf 60% und der Anteil an schwer verdaulichen Nadeln von Bäumen beträgt bis zu 35%. Der Schneehase (Lepus timidus) nimmt im Sommer mehr als die Hälfte seiner Nahrung aus Gräsern, etwa 5% aus Kräutern und 45% aus Nadeln auf, im Winter machen die Nadelbäume, v.a. Latschen ¾ und die Gräser nur mehr ¼ seiner Nahrung aus.
Standortwechsel
Eine weitere Überwinterungsstrategie mancher Arten von Alpentieren sind die vertikalen Wanderungen von den Bergen in die Talsohlen oder allgemeiner von den Sommereinständen in die Wintereinstände. Bekannt sind die Einfälle der Alpendohlen (Pyrrhocorax pyrrhocorax), weil sie als Schwarmvögel besonders auffällig sind und bei Schlechtwetter oder Wetterumbrüchen in der Talsohle einfallen, um auf den abgeernteten Apfelwiesen nach Früchten zu suchen. Die Alpendohlen sind mit diesen ihren Einflügen in die Wohnumgebung der Menschen zu Wetterpropheten und laut Volksmund Ankünder von Schneefall geworden. Die Alpendohlen fliegen nach ihren Talinvasionen untertags aber täglich an ihre nächtlichen Schlafplätze im Hochgebirge zurück.
Der Steinbock (Capra ibex) ist mit seinem massigen Körper und auf seinen eher kurzen Beinen schwerfällig im Tiefschnee. Im Winter sucht er steile Südflanken auf, die lange besonnt sind und an denen der Schnee schneller abschmilzt oder wegen der Geländesteilheit abrutscht und so die karge Nahrung dürrer Gräser freigibt.
Die Gämse (Rupicapra rupicapra) ist schlank, hochbeinig und ein guter Läufer auf Schnee, weil die Klauen ihres Paarhufes weit spreizbar sind und das Tier durch die vergrößerte Auftrittsfläche nicht so tief in den Schnee einbricht. Gämsen und Schneehühner (Lagopus muta) sind beide aktive Überwinterer und suchen für die winterliche Nahrungsaufnahme bevorzugt auch windapere Grate auf, von denen der Bergwind den Schnee verfrachtet und die Gämsheide oder Alpenazalee (Loiseleuria procumbens) freigeblasen hat. Die ledrigen, zellulosehaltigen und damit schwer verdaulichen Rollblättchen und Knospen dieses Zwergstrauches bilden die Überlebensration für diese kälteresistenten Hochgebirgsbewohner.
Winterschläfer
Die Überwinterungsstrategie des Alpen-Murmeltieres (Marmota marmota) heißt Erdhöhle, Vorratshaltung und Dauerschlaf. Murmeltiere sind pflanzenfressende Säuger, die sich ursprünglich in Nordamerika entwickelt hatten. Als in einer Kaltzeit eine Landbrücke zwischen Nordamerika und Eurasien bestand, wanderten sie in die Graslandschaften und Steppen unseres Kontinents ein. Als pontisch innerasiatisches Faunenelement haben die Murmeltiere dann nach den Eiszeiten die Alpen wieder besiedelt. Ihr Lebensraum sind heute die alpinen Rasengesellschaften oberhalb der Waldgrenze. Dort leben sie in sozial organisierten Familienverbänden. In den Sommermonaten fressen sie sich aus pflanzlicher Nahrung eine Fettschicht für den Winter an und legen in ihren Erdröhren und -kammern Futtervorräte an. Ein warnender Wächter warnt die Sippe beim Weiden mit schrillen Pfiffen vor dem Steinadler als Überraschungsjäger aus der Luft. In unseren Bergen stellen die Murmeltiere im Sommer 90% der Beute für den Steinadler dar. Und auf den Warnpfiff des Wächters versucht sich die ganze Sippe durch Flucht in den schützenden Erdbau in Sicherheit zu bringen. Dem Winter weicht das Murmeltier durch einen Dauerschlaf in der wohligen, heugepolsterten Erdhöhle aus. Die Lebensfunktionen werden extrem gedrosselt: Die Herzfrequenz sinkt von sommerlichen 130 Schlägen pro Minute auf 15, der Atemrhythmus von 30 Zügen auf 4-5 pro Minute und die Körpertemperatur fällt von 37,7 auf 2,6° C. Für 160 Tage Winterschlaf wird nur so viel Energie verbraucht wie für 12 Tage aktives Leben. Unter einer kritischen Schwellentemperatur wird es für das Murmeltier lebensbedrohend, es wacht auf, bewegt sich, gewinnt aus der Bewegung Wärmeenergie und steigert seine Körpertemperatur. Bei erhöhter Körpertemperatur verfällt es wieder in den Dauerschlaf. Im Frühjahr, zur Zeit der Schneeschmelze wird es aufwachen und bis zu einem Drittel seines Körpergewichtes verloren haben. Die geleerten Fettdepots werden durch das sommerliche Mastfressen wieder aufgefüllt werden.
Auch das Eichhörnchen (Sciurus sciurus) ist ein Winterschläfer mit Vorratshaltung. Sinkt seine Körpertemperatur zu stark, erwacht es in seinem Kobel, frisst bevorratete Nüsse aus dem nahen Versteck, gewinnt daraus Energie und Körperwärme und schläft weiter.
Der Braunbär (Ursus arctos) ist ebenfalls ein Winterschläfer in Höhlen. Die Bärin gebiert sogar im Winterschlaf ihre Jungen. Bärenjunge sind im Verhältnis zur Körpergröße der erwachsenen Tiere unterdurchschnittlich klein und beim Wurf kaum größer als ein Meerschweinchen. Auch Bärenjunge werden nackt und blind geboren. Dank der sehr fett- und eiweißreichen Muttermilch der Bärin gedeihen die Jungen aber schnell. Sie haben eine stark ausgeprägte extrauterine Wachstumsphase, aber wenige angeborene Verhaltensweisen, sondern sehr viel erlerntes Verhalten: Das meiste, was sich das Bärenjunge an Verhalten aneignet, lernt es von seiner Mutter. Zum Instinktverhalten der erwachsenen männlichen Bären gehört die Eigenheit, Junge der eigenen Art anzugreifen und zu töten. Diese arteigene Aggression der Bärenmännchen soll bei der verwaisten Bärin vorzeitige Brunft auslösen, das Ziel des begattungswilligen Bären. Junge führende Bärinnen fliehen daher als Schutzmaßnahme vor den Männchen. Im Laufe der Evolution hat sich auch das Vertreiben der männlichen Jungen durch die eigene Bärenmutter herausgebildet. Bärinnen setzen im fruchtbaren Alter alle zwei Jahre einen Wurf. Bis zur Geburt der nächsten Jungen dürfen die Jungen des vorausgehenden Wurfes bei der Bärin verbleiben, dann werden die männlichen Jungen, gleichsam präventiv, vertrieben, damit sie bei eintretender Geschlechtsreife nicht die jüngeren Geschwister attackieren und töten. Diese männlichen Jungbären sind dann weiträumige Streuner auf der Suche nach einem neuen Territorium. Die männlichen Bären der Braunbärenpopulation in der trentiner Adamello-Brenta-Gruppe wandern im Alpenbogen weitum. Weibchen mit und ohne Jungen verbleiben hingegen immer noch in einem flächenmäßig viel kleineren Kerngebiet im Trentino. Alle, seit dem Jahre 2005 auch in Südtirol ein- und durchziehenden Bären der Adamello-Brenta-Population waren bis heute ausschließlich Männ-chen.
Winterstarre
Die Winterstarre ist eine sehr häufige Strategie vieler Tierarten, den lebensfeindlichen Jahresabschnitt zu überstehen. Unter den fünf Klassen der Wirbeltiere (Vertebratae) sind die beiden Klassen der Vögel und Säugetiere eigenwarme Tiere, d.h. sie können ihre Körpertemperatur selbst regulieren und konstant halten. Die Fische, Lurche und Kriechtiere sind hingegen wechselwarme Tiere. Wechselwarme Tiere haben keine eigene Regulierung ihrer Körpertemperatur, sie nehmen mit ihrem Körper die Umgebungstemperatur an. Eidechsen und Schlangen als Vertreter der Kriechtiere z.B. werden nach nächtlicher Auskühlung im Sommer erst nach stundenlangem morgendlichem Sonnenbad auf einer Steinplatte beweglich, flink und beutefähig.
Viele wechselwarmen Tiere fallen im Hochgebirgswinter in Kältestarre: Eidechsen in Mauer- oder Gesteinsritzen, Frösche und Kröten in Laubhäufen, die einheimischen Fischarten der Karpfenartigen (Cyprinidae) im Bodenschlamm von stehenden Gewässern. Wasser hat bei +4° C seine größte Dichte, das schwere Wasser sinkt somit auf den Seegrund ab und friert nie, wenn der See tief genug ist. Diese sogenannte Dichteanomalie des Wassers ist der Grund, dass Gewässer von der Oberfläche nach unten zufrieren und nicht umgekehrt. Die Eisdecke wird bei anhaltendem Frost in ihrer Schichtmächtigkeit dicker, wirkt aber als Isolator, schützt das Wasser am Grund vor Frost und sichert damit das winterliche Überleben der kiemenatmenden Wasserbewohner am Gewässergrund.
Unter den einheimischen Fischarten sind die Forellenartigen (Salmonidae) hingegen winteraktiv. Sie sind Kaltwasser-Laicher der Fließgewässer. In der Laichzeit ziehen Forellen und Äschen fluss- und bachaufwärts bis in langsam fließende und sauerstoffreiche Quellbäche und Rinnsale und legen dort in den Wintermonaten ihre Eier ab. Deswegen ist der Winter bis Mitte Februar für diese Fischarten die Schonzeit.
Unter den eigenwarmen Säugetieren nehmen die Fledermäuse eine Sonderstellung ein. Die borealen und submediterranen Arten dieser Flugsäuger fallen in ihren Winterquartieren ebenfalls in Kältestarre. Die obervinschgauer vormaligen Militärbunker, aber auch Felshöhlen und ausgefaulte Baumstämme bieten geeignete Überwinterungsgebiete für die verschiedenen Fledermausarten: hohe Luftfeuchtigkeit bei Frostfreiheit oder nur leichten Minusgraden.
Winterbrüter
Sie werden jetzt verharren und nicht so recht an die verkehrte Welt glauben wollen. Wie war das gerade vorhin? Der Winter ist für Alpentiere der Auslesefaktor schlechthin und dann soll es Tierarten geben, die sich unter solchen Extremsituationen fortpflanzen? In der Tat, es gibt z.B. unter den einheimischen Vögeln winterbrütende Arten. Der Fichtenkreuzschnabel (Loxia curvirostra) gehört zu ihnen. Er ernährt sich fast ausschließlich von den ölhaltigen Samen der Fichten- und Lärchenzapfen. Die Flügelsamen dieser beiden Nadelholzarten reifen im Spätherbst. Und fallen im Winter aus. Für den Kreuzschnabel bringt der Winter also Nahrung in Fülle. Sein überkreuzter Ober- und Unterschnabel funktioniert wie eine Spreizzange, mit welcher der Vogel die Schuppen der Zapfen geschickt aufspreizt oder spaltet und so die Samen aus den Coniferen-Zapfen hervorholt. Das winterliche Nahrungsoptimum begünstigt den Brut- und Aufzuchtserfolg und daher hat der Fichtenkreuzschnabel seine Brutperiode in den Winter verlegt.
Winterbrüter ist auch der Bartgeier (Gypaetus barbatus).Als vermeintlicher Lämmergeier zu Unrecht in Verruf geraten, wurde er in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch gnadenlose menschliche Verfolgung im Alpenbogen vollkommen ausgerottet. Dank eines Wiederansiedlungsprojektes, das 1986 begonnen worden ist und dessen Gründertiere aus zoologischen Gärten stammen, ist der Bartgeier wieder in die Alpen zurückgekehrt. 1997, 11 Jahre nach dem Beginn des Wiederansiedlungsprojektes ist die erste Naturbrut in den Alpen erfolgt. Seit 2015 brütet ein Bartgeier-Paar wieder erfolgreich im Martelltal, seit 2017 ein zweites im Trafoital. 2024 gab es in Südtirol sieben brütende Bartgeierpaare. Der Bartgeier ist ein reiner Aasfresser und sein volkstümlicher Name Lämmergeier hat ihm zu Unrecht den Kragen gekostet. Weder der Schnabelbau noch die Ausformung der Füße und Zehenkrallen befähigen den Bartgeier, lebende Beute zu schlagen. Im Gegensatz zum Steinadler ist der Bartgeier kein Grifftöter. Der Bartgeier ist das oberste Glied einer Nahrungskette. Wenn die Fleischfresser wie Steinadler, Kolkrabe, Rotfuchs und Marder sich an einem Beutetier bedient haben und nur mehr das Skelett übriggeblieben ist, schlägt die Stunde des Bartgeiers: Dieser Altweltgeier kann Knochen auflösen und brechen. Die Magensäure des Bartgeiers entspricht in ihrem Säuregrad der Salzsäure und kann den Kalk als Knochenbausubstanz auflösen. Röhrenknochen enthalten in ihrem Inneren das fett- und eiweißreiche Knochenmark. Mit seiner Magensäure hat sich der Bartgeier diese spezielle Nahrungsnische konkurrenzlos erschlossen. Sind die Skelettknochen eines Beutetieres zu groß, um als Ganzes verschlungen zu werden, nimmt sie der Bartgeier in den Schnabel, fliegt damit auf und lässt sie aus luftiger Höhe gezielt auf Steinplatten, so genannte Knochenschmieden abfallen. Diese Abwürfe wiederholt er so lange, bis der Knochen zerschellt und sein energiereiches Mark freigibt. Weil das Angebot an Fallwild im ausapernden Winter am größten ist, ist auch der Bartgeier zum Winterbrüter geworden. Das Weibchen legt zwischen Dezember und Jänner seine Eier und die Jungen schlüpfen nach fast 60-tägiger Brutzeit im ausklingenden Bergwinter Ende April Anfang Mai. Bartgeier legen nur zwei Eier im Abstand von sieben Tagen. Da die Eier schon vom ersten Ei an fest bebrütet werden, schlüpft das erste Junge sieben Tage vor dem zweiten, wenn beide Eier befruchtet waren und erfolgreich bebrütet wurden. Jungvögel wachsen in ihren ersten Lebenswochen sehr schnell und dadurch ist das erste Junge beim Schlupf des zweiten bereits deutlich größer. Die Bartgeier-Eltern vernachlässigen das jüngere und damit kleinere Geschwister in der Fütterung. Das größere Junge verdrängt das kleinere außerdem bei der Fütterung und hackt es auch aktiv mit Schnabelhieben. Das Zweitgeschlüpfte verendet. Nach dem Brudermord von Kain und Abel in der Bibel wird die Vernachlässigung bzw. Tötung in der Verhaltensforschung als Kainismus bezeichnet. Das zweite Ei ist beim Bartgeier also eine biologische Reserve. Bartgeier-Eltern ziehen nie beiden Jungen auf. Auch Steinadler (Aquila chrysaetos) legen nur zwei Eier, ziehen in Jahren mit gutem Nahrungsangebot aber beide Jungen und in nahrungsknappen Jahren nur ein Junges auf. Man spricht beim Steinadler von fakultativem Kainismus.