Aus dem Gerichtssaal - Hier also die erste der angekündigten Geschichten aus dem früheren Bezirksgericht Schlanders. Verhandelt wurde der Fall in den 1980-iger Jahren. Ich musste damals turnusmäßig den Staatsanwalt vertreten. Gleich der erste zu verhandelnde Fall erregte mein Interesse. Da war ein Tscharser angeklagt, die Ehre und die menschliche Würde eines Schnalsers in der Weise verletzt zu haben, dass er diesen im Gasthaus mit den Worten begrüßte: “Hoi, bisch a schun do, du longseckelter Schnolser?“ Der mit solchen Worten Empfangene verließ wortlos das Gasthaus und fuhr schnurstracks nach Schlanders zu seinem Anwalt, um gegen die vermeintlich ehrenrührige Anrede Strafantrag einzubringen. Bei der Verhandlung verneinte der Tscharser jede ehrabschneiderische Absicht: „So sogt man holt bei uns, aber eher zum Scherz, zu den Schnalsern!“ Die Beweisaufnahme war angesichts des Geständnisses des Beschuldigten bald erledigt, worauf der Richter den Anklagevertreter um sein Plädoyer bat. Allen Beteiligten fiel es sichtlich schwer, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Um aber wenigstens den Schein einer ernsten Verhandlungsführung zu wahren, verlegte sich der Ankläger aufs Dozieren: Der Ausdruck „Seckel“ sei kein Schimpfwort, er sei zumindest im süddeutschen Raum weit verbreitet! In Reutligen im Schwabenland sei ein Einheimischer, der einen Norddeutschen einen „verseckelten Zugezogenen“ genannt hatte, vom dortigen Gericht mit der Begründung freigesprochen worden, der einfache Seckel könne durchaus auch zärtlich und anerkennend gemeint sein und stelle allenfalls eine milde Form der Kritik dar, welche Auswärtigen zuzumuten sei, weil sie ihre Empfindlichkeiten gegenüber einer bilderreichen Landessprache ablegen müssten. In Pforzheim sei Seckel kein Schimpfwort, sondern gar ein Kompliment. Auf dem dortigen Rathausplatz gäbe es eine Bronzefigur, welche „Seckel“ genannt wird, weil in den Zeiten, da in der Stadt die Goldindustrie florierte, Goldschmiede mit einem vollen Seckel angesehene Leute waren. Die Schnalser, so dozierte der Anklagevertreter weiter, seien aus einem ähnlichen Grund zu ihrem Seckel gekommen. Im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit seien sie wohlhabende Bauern gewesen, welche auch Geld verliehen. Zum Landsprachmarkt im März trafen sie sich in Goldrain mit ihren Schuldnern und trieben das ausgeliehene Geld ein. Je erfolgreicher sie dabei waren, umso länger wurde ihr (Geld)beutel aus Stoff oder Leder, welcher am Gürtel hing. Also wäre „lang-seckelt“ nur gleichbedeutend mit münzreich und wohlhabend, somit alles andere als ein Schimpfwort. Aber selbst wenn man den „Seckel“ auf das rein Genitale beschränken wollte, wäre es für einen Mann noch immer nichts Schimpfliches, wenn man ihm ein langes Glied „anhängen“ wollte. Also sei, so das Schlusswort des Anklägers, der Tscharser voll freizusprechen. Der Richter folgte bereitwillig diesem Antrag. Der Schnalser verließ kopfschüttelnd und „hänglochet“ den Gerichtssaal, der Tscharser schüttelte sich vor Lachen, und spätestens seit diesem Präzedenzfall des Schlanderser Bezirksgerichts können die Schnalser ungestraft als „langseckelt“ apostrophiert werden!
Peter Tappeiner, Rechtsanwalt
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