Wolfgang Platter, am Gedenktag der Nonsberger Märtyrer Sisinius, Martyrius und Alexander, 29. Mai 2011
Es klingt schier unglaublich, existiert aber tatsächlich: In ein und demselben Stamm einer alten Weide brüten derzeit am Dorfrand von Bormio drei verschiedene Vogelarten als Höhlenbrüter: Der Star, der Wiedehopf und der Grünspecht. Dabei bildet ein einziger Meter Stammabschnitt im mittleren Höhenbereich der alten Weide das Zuhause und die Kinderstube der drei Vogelarten: Wohnen auf engstem Raum, gleichsam in verschiedenen Stockwerken und als verträgliche und friedfertige Nachbarn. Der Verhaltensforscher würde dazu sagen, ohne artfremde Aggression. Einzig das Einflugloch befindet sich an einer anderen Seite des Stammes. In menschlicher Sprache ausgedrückt: mit einem Minimum an Schlafzimmer-Diskretion.
Dieser alte Weidenbaum möge als Beispiel für den ökologischen Wert von Altholz gelten und hat mich veranlasst, im internationalen Jahr des Waldes 2011 den heutigen Beitrag zu verfassen.
Zimmerleute und Stubenbenutzer
Von den im Weidenbaum brütenden Vogelarten ist nur der Grünspecht imstande, seine Bruthöhle selbst zu zimmern. Sein kräftiger Meiselschnabel, seine abgefederte Schädelkapsel, der Kletterfuß und der steife Stützschwanz ermöglichen dem Specht das Aushöhlen von Teilen des Baumstammes zur Bruthöhle.
Der Schnabel des Stares ist zu schwach, um selbst die Nisthöhle auszuhöhlen. Der Star benützt deswegen, aufgelassene Spechthöhlen der Vorjahre. Das gleiche gilt für den Wiedehopf: Sein gekrümmter Stocherschnabel ist ebenfalls zu filigran, um Holz aus dem Stamm zu arbeiten. Aus diesen Beispielen erkennen Sie die Bedeutung der Spechte als Brutraumbeschaffer für andere Vogelarten.
Wohnen im Holz
In einer immer stärker ausräumungsgefährdeten und vielerorts intensiv genutzten Kulturlandschaft kommt den alten Bäumen und darunter vor allem auch den Laubholzarten mit weichem Holz eine große ökologische Bedeutung zu als Lebensraum, Brutplatz, Nahrungskette.
So interessant und selten die oben beschriebene ornithologische Beobachtung an dem Weidenbaum im Veltlintal auch ist, ist sie doch auch ein Hinweis für die große Wohnraumnot, welcher die höhlenbrütenden Vogelarten begegnen. Und in einem umfassenderen ökologischen Verständnis als dem falsch verstandenen Ausräumen und Aufräumen sollten solche Altbäume unbedingt erhalten bleiben. Viele der Forstleute haben in dieser umfassenderen Betrachtensweise von Waldpflege den Wert des Altholzes oder auch des Totholzes erkannt und zeigen solche Bäume nicht mehr zur Schlägerung aus.
Zur Erinnerung sei wiederholt, auf was ich schon in vorausgehenden Nummern dieser Zeitung im heurigen Jahr hingewiesen habe: Das Jahr 2011 ist von den Vereinten Nationen zum internationalen Jahr des Waldes ausgerufen worden. Und der Wiedehopf ist vom Deutschen Naturschutzbund und anderen Naturschutzvereinigungen zum Vogel des Jahres 2011 auserkoren worden.
Nahrungsnischen nutzen
Dass Star, Grünspecht und Wiedehopf ein und denselben Brutbaum benutzen, kann wohl als Sensationsbeobachtung gelten. Dass sie denselben Lebensraum bewohnen, ist Anzeichen für die Reichhaltigkeit des Nahrungsangebotes und die gute Strukturierung der Landschaft, in welcher die Weide stockt: Sonnenexponierte Magerweisen, am Waldrand gelegen, mit extensiver Nutzung ohne Ausbringung von Pestiziden bieten eine große Vielfalt an Insektenarten, Würmern und vielen anderen Wirbellosen. Der Grünspecht ernährt seine Brut vor allem mit Ameisen, während etwa der Wiedehopf in den alternden Kuhfladen von Weidetieren nach Fliegenlarven stochert oder den Boden frisch gemähter Wiesen nach Grillen, Heuschrecken und Würmern absucht. Der Star zieht schreitend Würmer aus ihren Erdbauten oder –verstecken. Die drei Vogelarten nutzen also unterschiedliche Nahrungsnischen ihres Lebensraumes.
Sterbendes Altholz
Im trockenen, weil niederschlagsarmen und windreichen Vinschgau gedeihen Laubhözer vor allem in den Auwaldresten des Talsohlenbodens, an natürlichen Bach- und künstlichen Wasserläufen. So sind etwa Pappeln und Weiden und im Untervinschgau Kastanien Waalbegleiter. Die Waale zur Bewässerung der landwirtschaftlich genutzten Kulturflächen werden immer seltener genutzt und sind in den letzten Jahrzehnten immer häufiger durch arbeitserleichternde und wassersparende Druckrohrleitungen ersetzt worden. Was arbeitstechnisch und ökonomisch nachvollziehbar ist, hat ökologisch zu einer Verarmung geführt. Waalbegleiter wie Laubhölzer sterben ab und Waalbewohner wie Lurche sind verschwunden. Vertrocknende, abdorrende Laubbäume sollten nicht einfach bedenkenlos umgeschnitten werden. Dort, wo sie keine Gefahr für Menschen, Häuser und Verkehrsteilnehmer auf Straßen darstellen, sollten sie erhalten bleiben: als Lebensräume für die Glieder einer artenreichen und ökologisch wertvollen Nahrungskette unter den Insekten, Spinnen und Wirbellosen, aber auch als Bruträume und Kinderstuben unter den höhlenbrütenden Vogelarten. Der landschaftliche Eigenwert eines alten Baumes steht hoffentlich sowieso außer Streit. Oder etwa nicht? Wie hat es doch Eugen Roth formuliert: Zu fällen einen Baum, braucht es fünf Minuten kaum. Ihn zu hegen und zu pflegen, braucht es ein ganzes Leben.
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