Der Kulturhof Rimpf am Vinschger Sonnenberg stand in den 80er Jahren vor dem Verfall. Durch eine Kortscher Initiativgruppe, dem späteren Verein „Kulturhof Rimpf“ wurde der Hof gerettet, saniert und für kulturelle Zwecke zur Verfügung gestellt. Seit 1987 können Kulturschaffende mehrere Wochen in der Künstlerwohnung am Rimpfhof leben und arbeiten. Literaten, Maler, Musiker und Kunstinteressierte haben seither das Angebot genutzt und durch ihren Aufenthalt und die Ausstellungen bzw. Aufführungen das kulturelle Leben des Vinschgaus bereichert. Der Zeichner Leo Brunschwiler (geboren 1955 in Uzwil SG) lebt und arbeitet in Zürich. 2019, 2020 und 2021 arbeitete er als Artist in Residence im „atelier da giast“ in Sta. Maria Val Müstair und 2021 und 2022 verbrachte er insgesamt acht Wochen als Gastkünstler am Rimpfhof. Vom 19. August bis 24. September zeigte er seine „Rimpfer Skizzenblätter“ bei einer Ausstellung in der Schlandersburg. Der Schweizer Künstler hat sich nicht einfach in die Vinschger Bergwelt zurückgezogen und seine Umgebung gezeichnet. Brunschwiler ist bewusst in die Berglandschaft und in die Geschichte des Sonnenberges eingetaucht und hat seine Blicke über das Tal gerichtet, die gegenüberliegenden Gletscher in den Laaser Bergen betrachtet und seine direkten Beobachtungen mit den globalen Entwicklungen verbunden. So sind seine Zeichnungen entstanden. In der Einsamkeit und Stille, beim Rauschen des Gadriabaches und umgeben von unzähligen Bäumen, hat Leo Brunschwiler danach gesucht, den Lauf der Welt zu verstehen, seine Verlorenheit und Winzigkeit auf Erden wahrzunehmen und sich über die Folgen vom zunehmenden Klimawandel und den schmelzenden Gletschern klar zu werden. Brunschwiler zeigt mit seinen Zeichnungen, dass man sich in die Stille der Natur zurückziehen muss, um den Lärm der Stadt zu erfassen und den Zusammenhang von schmelzenden Gletschern und das Verbrennen der fossilen Brennstoffe zu begreifen. So sind die „Rimpfer Skizzenblätter“ nicht nur schöne Zeichnungen über alte Höfe und urige Naturlandschaften am Sonnenberg, sondern philosophische Reflexionen über das verhängnisvolle Handeln von uns Menschen und Enthüllungen über die uralten Botschaften und Warnungen, die in den alten Sagen stecken.
Der Gadriadrache
Die Alpenländer sind reich an Sagen. Bekannt sind die Dolomitensagen, aber auch die Sagen aus dem Vinschgau. Es sind uralte Geschichten über geheimnisvolle Berggeister, von verzauberten Gestalten, von reichen Städten, großen Seen und schrecklichen Ereignissen. Für uns aufgeklärte Menschen sind es nette Geschichten, so wie die Märchensammlung der Gebrüder Grimm oder die biblische Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies. Sie werden vorgelesen und auch Kindern erzählt, aber sie bleiben Geschichten, die mit der Realität nichts zu tun haben. Nun aber kommt der Zeichner Leo Brunschwiler aus Zürich, der in den alten Sagen nicht nur nette Erzählungen sieht. Besonders die Sage vom Gadriadrachen hat ihn beschäftigt. Nach der alten Sage soll am Gadriaschuttkegel zwischen Laas und Schlanders eine verschüttete Stadt liegen, deren Bewohner ein lasterhaftes Leben führten. Der fromme Priester vom nahen St. Georgs-Kirchlein warnte die Städter, aber kein Unheil und keine Warnung änderte das Verhalten der Menschen. Da sandte der Heilige seinen Drachen aus, der in einer großen Höhle oberhalb des Gadriasees sein Lager aufschlug und von dort aus die Herden der Städter überfiel. Doch auch die Drachenplage vermochte das Verhalten des gottlosen Volkes nicht zu ändern. Die Städter ersannen vielmehr eine List, um dem Untier den Garaus zu machen. Sie füllten die Haut eines Kalbes mit ungelöschtem Kalk und ließen den Köder über die Felsen an Stricken zur Drachenhöhle hinabgleiten. Sogleich schoss der Drache aus seinem Versteck hervor, verschlang heißhungrig das vermeintliche Kalb und sprang dann in den nahen See, um seinen Durst zu löschen. Kaum kam das Wasser mit dem Kalk in Berührung, so wurde das Tier von dem inneren Brand verzehrt und zerschlug in seinen Todesqualen mit dem mächtigen Schwanz den Damm. So kam der Bergsee zum Ausbruch, die wild tobenden Wassermassen überspülten nun die ganze Stadt und begruben sie samt ihren Bewohnern unter einem großen Geröll- und Schlammhügel.
„Macht euch die Erde untertan“ oder „Wir sind Teil der Natur“
Leo Brunschwiler beschäftigt sich in seinen Arbeiten hauptsächlich mit der Gefährdung und Zerstörung der Natur und dem Klimawandel. Viele sehen die Ursache der Naturzerstörung in einem falschen Menschen- und Weltbild. Der Mensch hat sich zur Krone der Schöpfung gemacht und die Welt erobert und ausgebeutet. Dabei hat er sich auch auf die Bibel gestützt, wo im ersten Buch des Alten Testamentes folgendes steht: „Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht“. (Aus: Genesis 1,28). Auch wenn einige dieses Bibelzitat als Übersetzungsfehler bzw. als falsche Interpretation sehen, ist es eine Tatsache, dass wir Menschen die Natur als „Umwelt“, die uns kostenlos zur Verfügung steht und nicht als „Mitwelt“, mit der wir in Einklang leben müssen, sehen. Deshalb gibt es den Klimawandel und das Artensterben. Nun geht es darum, uns wieder als Teil der Natur zu verstehen, unsere Welt neu zu denken (siehe das Buch von Maja Göpel), „unser gemeinsames Haus zu schützen“ und „zu einem neuen Dialog über die Art und Weise zu führen, wie wir die Zukunft unseres Planeten gestalten“, wie es Papst Franziskus in seiner Umwelt-Enzyklika „Laudato Si“ ausdrückt. Die Erde schwitzt und brennt, es gibt schmelzende Gletscher, Unwetter und Dürren. Viele Menschen verlieren ihre Lebensgrundlage. Wir haben die „Drachen“ geweckt. Sie schlagen um sich und zeigen uns wie klein und ohnmächtig wir sind und wie sehr wir der Natur und ihren Kräften ausgeliefert sind. Sie lassen sich nicht überlisten. Es braucht Initiativgruppen, so wie Fridays for Future überall auf der Welt, damit die Erde für uns Menschen nicht unbewohnbar wird. So gesehen sind die alten Sagen nicht einfach nur nette Geschichten, sondern tiefgründige Erzählungen mit alten Weisheiten.
Heinrich Zoderer
Bilder von der Homepage von Leo Brunschwiler:
www.leobrunschwiler.ch: