Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Ägidius, 1. September 2021
In den Bergen währt die Schneedecke oberhalb der Baumgrenze lang und die für das Wachstum und den Erhalt der Art nutzbare Zeit ist für die Pflanzen in dieser Höhenlage kurz. Schnelles Austreiben, Wachsen, Blühen, Fruchten und Samenbilden ist eine der Anpassungsstrategien vieler Blütenpflanzen an den Extremstandort Hochgebirge. Die eigene Art zu erhalten, ist der biologische Ursinn aller Arten. Dazu gibt es aber nicht nur bei den Gebirgspflanzen, sondern bei vielen anderen Pflanzen-arten ganz unterschiedlicher Standorte und Lebensräume neben der geschlechtlichen Vermehrung über Samen auch ungeschlechtliche, vegetative Formen der Vermehrung über Ausläufer, Brutknollen, Wurzelrhizome und andere Formen.
Besondere Bedeutung kommt im Gebirge dem bodennahen Mikroklima zu. Dieses kann sich, abhängig vom Bodenrelief, den Strahlungs- und Windverhältnissen innerhalb weniger Quadratdezimeter entscheidend ändern: Im Schneetälchen herrschen ganz andere Standortbedingungen als am unmittelbar daneben liegenden, aperen Windgrat. Und großräumiger gefasst unterscheiden sich die Wachstumsbedingungen und Standortfaktoren auf der Sonnenseite stark von jenen auf der Schattenseite der Hänge.
Zur fotografischen Dokumentation des schnellen Wachstums der Gebirgspflanzen und der unterschiedlichen Blühaspekte bin ich im heurigen Sommerhalbjahr zweimal an der orographisch rechten Flanke des Trafoitales oberhalb der Waldgrenze von der Franzenshöhe über den Dreifernerweg in Richtung Berglhütte gewandert. Die Frühjahrsblüher habe ich am 31. Mai und die Herbstblüher am 19. August fotographisch festgehalten. Zum zweiten Datum haben die Frühjahrsblüher schon ihr Samen ausgebildet. Eine Auswahl an Bildern von Blüten und Samen auf dem kalkigen Dolomit-Boden der obersten Tausend Höhenmeter des Ortler-Massivs stelle ich auf der heutigen Doppelseite vor.
Zwei Bilder des gleichen Landschaftsausschnittes zeigen die unterschiedliche Schneebedeckung bzw. Ausaperung an den beiden Stichtagen 31. Mai und 19. August auf. Auf diesen Bildern ist auch die sogenannte 1842er-Moräne zu sehen. Diese Seitenmoräne zeigt den Höchststand des Madatschgletschers nach der sogenannten Kleinen Eiszeit von 1650 – 1842 an, als die Alpengletscher nach mehreren Jahrzehnten unterdurchschnittlich kalter Jahre diese ihre größte Ausdehnung erreicht hatten. An der Außenseite dieser Moräne ist der Boden schon zur Ruhe gekommen. Krautige und verholzende Pflanzen bis hin zu den Baumarten Lärche und Zirbe haben den Moränenrücken schon fast geschlossen besiedelt. Die Innenseite der Moräne hat ab ihrer Abbruchkante einen instabilen Boden, der durch den Abfluss des Schmelzwassers und im Fall von starken Gewittergüssen mit hoher Regendichte immer noch und immer wieder erodiert. Daher ist er nur spärlich und lückig von Pionierpflanzen besiedelt.
Im talseitigen Kalkschuttkar des abschmelzenden Madatschgletschers gibt es ein im Westen Südtirols seltenes, interessantes Karstphänomen: Der Großteil des Schmelzwassers versickert im wasserdurchlässigen Dolomitgestein und springt Hunderte Höhenmeter tiefer bei den Wasserfällen an den Dreibrunnen aus der Felswand.