Yulia Marfutova:
Der Himmel vor hundert Jahren.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.
In dieser verlässlichen Reihung leben die Dorfbewohner einer archaischen Siedlung in Russland. Schweigsame, doch fassbare Charaktere wissen am Beginn des 20. Jahrhunderts viel vom Eigenen, nahezu nichts vom Fremden. Jenseits der Kreisstadt wird wohl noch Krieg sein, denn im Dorf sind nur Alte, Kinder und Frauen geblieben. Ilja führt das Amt des Dorfältesten aus, weißbärtig und mit hellseherischer Gabe ausgestattet. Wie das Wetter wird, sagt ihm ein Glasröhrchen. Sein Gegenspieler Pjotr befragt hingegen die Flussgeister, ein Kapazunder auch er. Der Fluss geht seinen Lauf, die Brachsen beißen an, bis Iljas Frau Inna ein Messer herunterfällt. Wer an Röhrchen und Flussbotschaften glaubt, weiß auch dieses Zeichen zu deuten: Ein Mann wird ins Haus kommen. Wadik trifft ein, der geheimnisvolle Unbekannte in der schmuddeligen Uniform, von dem alle im Dorf etwas wissen wollen. Iljas Enkeltochter Annuschka wird zu seiner Vertrauten, auch Warwara, die Dorfverrückte „mit Brei im Kopf“ stellt die Neugier über die grassierende Sprachlosigkeit. Aufgrund welcher Ideen, von denen Wadik spricht, wird eigentlich Krieg geführt? Manche Zusammenhänge bleiben undurchdringlich, im Vordergrund steht das Existentielle: knurrende Mägen, verschwundene Männer, unbestattete Tote. Mit Enteignungen bricht die russische Geschichte ein, denn in der Gestalt von zwei Kerlen kommt „die Realität“ ins Dorf. Und auch die hat Hunger. Kein Wort von Lenin, keine historischen Erklärungen, aber eine schlichte Welt, sie sich in ihrer Zerbrechlichkeit zeigt, sich aber auch ihrer Kräfte besinnt.
Yulia Marfutova kleidet die Romanhandlung in klangvolle Sätze, kombiniert russische Versatzstücke und akzentuiert bei all der Stille zwischen den Figuren Merkmale der gesprochenen Sprache. Märchenhaftes wechselt sich mit unmittelbaren Dialogen ab, Sprichwörter und das Tuscheln am Markt möbeln den Klang des Debüts auf. „Weil Geschichten so vieles so viel erträglicher machen“, heißt es darin.
Maria Raffeiner
Über den Autor
Yulia Marfutova, geboren 1988 in Moskau, studierte Germanistik und Geschichte in Berlin und promovierte in Münster. Für ihre literarischen Arbeiten erhielt sie unter anderem das Arbeitsstipendium des Berliner Senats und den GWK-Förderpreis für Literatur. Sie war Stipendiatin des Brecht-Hauses und der Jürgen-Ponto-Stiftung, der Meisterklasse der Berliner Festspiele und des Literarischen Colloquiums Berlin. Yulia Marfutova lebt in Boston.