Aus dem Gerichtssaal - Der Chefredakteur meinte unlängst, die Leser dieses Blattes würden zwar meine Ausflüge in die Zeitgeschichte schätzen, aber eigentlich brächten sie mich mit der Rubrik „Aus dem Gerichtssaal“ in Verbindung. Nach diesem Wink mit dem Zaunpfahl also folgende Geschichten:
Ein Bauer aus der Umgebung von Mals erhielt kürzlich eine Mitteilung der Staatsanwaltschaft. Darin stand geschrieben, dass gegen ihn strafrechtlich vorgegangen wird. Er war sich zwar keiner deliktischen Handlungen bewusst, aber bei Gericht und auf hoher See ist man allein in Gottes Hand. Also konsultierte er vorsorglich einen Anwalt. Der klärte ihn dahingehend auf, dass gegen ihn wegen „widerrechtlichen Weidens“ ermittelt würde. Aber nicht etwa, weil er sich in der Schlafzimmertür geirrt und dabei in fremde Jagdgründe eingedrungen wäre, sondern weil er sein Vieh unerlaubterweise auf dem Grund eines Nachbarn hatte grasen lassen. Der hatte das gar nicht goutiert und darauf mit Strafantrag reagiert. Aus den Akten bei der Staatsanwaltschaft ging hervor, dass sich der inkriminierte Vorgang des „Ausgrasens“ an einem Tag nach dem 16. Oktober, also nach „Golli“ zugetragen hatte. Der mit dieser Anklage konfrontierte Bauer fiel aus allen Wolken: „Ich habe doch nichts Unrechtes getan! Bei uns gilt ja schon seit Abrahams Zeiten der Grundsatz: Nach Golli gehören die Wiesen olli.“ Gemeint ist damit der in der bäuerlichen Welt seit Jahrhunderten geübte und gewohnheitsrechtlich tradierte Brauch, nach diesem Lostag das Vieh frei, ohne Einhaltung von Grenzen und auch unbeaufsichtigt auf die Weide zu treiben. Ich hatte leider noch nicht die Gelegenheit, die historischen Ursprünge dieses eingefleischten Gewohnheitsrechts aufzuspüren. Vom geltenden Strafrecht aus betrachtet würde ich jedoch auf „nicht schuldig“ plädieren, denn dem Bauern fehlte das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit seiner Tat, was wiederum die Voraussetzung für deren Strafbarkeit bildet.
Doch nun möchte ich den Lesern ein Buch empfehlen, nämlich das des Mailänders Marco Balzano: „Ich bleibe hier.“ Darin beschreibt er am Beispiel des Dorfes Graun berührend und mit großem Einfühlungsvermögen unser Schicksal nach der Angliederung an Italien, unter dem Faschismus, in der Zeit der unseligen Optionen und der Stauung des Reschensees. Als eine der schlimmsten von den Faschisten verübten Schandtaten bezeichnet er das Verbot der deutschen Sprache und die zwangsweise Italianisierung der Familiennamen. Im zweiten Autonomiestatut vom Jahre 1972 war denn auch die Möglichkeit vorgesehen, durch eine einfache Erklärung vor dem Standesbeamten den ursprünglichen Namen wiederherstellen zu lassen. In dieser Absicht kam ein in den 1960-iger Jahren nach Deutschland ausgewanderter Mittelvinschger zusammen mit seiner deutschen Frau in meine Kanzlei. Er hatte seinen Namen Winkler in Cantone ändern müssen, hätte also die Möglichkeit gehabt, sich wieder Winkler nennen zu können. Als dies seine Frau vernahm, reagierte sie ganz entrüstet: „Was, ich und unsere Kinder sollen ab nun nicht mehr Cantone sondern Winkler heißen? Das kommt mir nicht in die Tüte!“ Beim Cantone blieb es dann auch, was für „reichsdeutsche“ Ohren ja viel weicher und angenehmer klingt als das kantig-gutturale Winkler!
Peter Tappeiner, Rechtsanwalt
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