Von klein auf war Annas innigster Wunsch Krankenschwester zu werden – alles hätte sie dafür gegeben. Aber das Schicksal wollte es anders: Mit 18 Jahren bekam sie – wahrscheinlich durch ein traumatisches Erlebnis ausgelöst – ihren 1. epileptischen Anfall. Diese schwere Krankheit sollte fortan ihren weiteren Lebensweg prägen. Doch völlig kampflos wollte sie sich ihrem Los nicht ergeben und obwohl sie seither als das schwächste Glied galt, hat sie ihre Geschwister alle überlebt und kann heute trotz Krankheit auf 90 Lebensjahre zurückblicken. Der Mensch denkt und Gott lenkt!
Häufig wurde sie, wie aus heiterem Himmel, von Anfällen heimgesucht: in der Kirche, auf dem Acker, im Bett, im Stall, beim Kochen. Diese Unberechenbarkeit mit welcher die Krankheit schonungslos und unvermittelt immer wieder zuschlug, distanzierte zu ihrem Verdruss viele Dorfbewohner und Freundinnen. Dies schmerzte sehr und Anna musste couragiert gegen Einsamkeit und Ausgrenzung kämpfen. Der Herrgott hat sie aber immer wieder aufgefangen.
Als eines Tages Doktor Santifaller den Faslarweg herunterkam, gesellte sich Anna fragend zu ihm: „Isch deis ba miar wirkla asou, dass dr Kopf nimmr tuat, oder gibs do eppas, dass i wiedr zu Vrstond kimm?“ Der Arzt verschrieb ihr dann Pillen, welche ihr ein großes Stück Lebensqualität zurückgaben und auf die sie bis heute schwört.
Ihre Schwester Maria war im Rahmen der Option nach Österreich ausgewandert, hat dort geheiratet und Nachwuchs bekommen. Die Kriegswirren ließen diese Ehe aber scheitern. Lebhaft erinnert sich die „Hoslr“-Anna noch, wie ihr Neffe Günther von ihrem Bruder Paul von Österreich nach Stilfs geschmuggelt wurde. Diesem - als Soldat in Warschau stationiert - gelang es, einige Zeit vorher in Rattenberg einen Brief mit der Adresse seiner Schwester Maria, Kellnerin in einem dortigen Gasthaus, aus dem Zug zu werfen. Die Vorsehung wollte es, dass just der Sohn des Wirtes besagten Brief vom Bahnsteig aufheben sollte. So wurde Maria benachrichtigt, dass Paul den kleinen Günther in absehbarer Zeit ab- und nach Stilfs heimholen wollte. Am Silvestertag 1943 war es dann soweit: Trotz fehlender Ausweispapiere verlief der illegale Grenzübertritt mit dem 1½jährigen Kind ohne Zwischenfälle. In einem geliehenen Korb trug Paul den Kleinen in den heimatlichen Außerwinkel, wo die Freude über die Ankunft der beiden groß war. Allein der alte Vater blieb nachdenklich: „Iaz weart oan Bua fa mir fan Krieg nimmr hoamkemman!“. Diese Vorahnung bestätigte sich auf schmerzhafteste Weise, denn 2 seiner Söhne, Peter und Paul, sollten den Krieg nicht überleben. Zurück blieb eine Leere, welche vor allem der Mutter Senza das Herz brach… Die verbliebenen
Geschwister hat der ganze Verdruss, der ganze Verlust aber noch stärker zusammengeschweißt.
So fand Anna im Neffen und der Nichte eine wichtige Lebensaufgabe; musste aber eigene Hoffnungen und Wünsche begraben. Nunmehr galt ihr Leben vornehmlich den 2 kleinen Kindern der Schwester, welche ganzjährig als Kellnerin in Meran arbeitete und nur selten frei hatte. Ihr Bruder Lois, als Kriegsinvalide zurückgekehrt, unterstützte Anna mit viel Fürsorge und Weitsicht in der Erziehung.
Heiraten und selber Kinder haben wollte Anna jedoch nie, hätte sie doch immer Angst haben müssen, die tückische Krankheit weiterzugeben. Wehmütig erinnert sie sich an die interessanten Familiengespräche über das Leben im Dorf: Daten, Namen, Zusammenhänge, historische Komponenten, welche vor allem ihr Bruder Lois akribisch genau darzulegen vermochte. Oft denkt die heute 90-jährige Anna auch an die gemütlichen Stunden auf dem Dorfpankl, wo einst noch viel geredet, gesungen und gelacht wurde und man trotz schwerer Arbeit und wenig Geld harmonische Nachbarschaftsbeziehungen pflegte und sich Zeit zum Zuhören nahm. „Obr iaz kimmp holt ollz: S´Augnliacht, de Oahrn…“ Trotzdem geht sie heute noch sonntags zu ihrer Freundin Erna, um Mensch-ärgere-dich-nicht und Halma zu spielen.
Das Leben der Anna, früh gezeichnet von Schicksalsschlägen und tragischen Verlusten, blieb dank ihres Humors, ihrer Gelassenheit, aber vor allem aufgrund ihres tiefen, unerschütterlichen Gottvertrauens stets von Zuversicht und Lebensfreude geprägt, welche sie auch heute im hohen Alter nicht verloren hat.
Renate Eberhöfer