Uns ist in alten mæren wunders vil geseit …
So lautet er, der Beginn des Nibelungenliedes. Die mittelhochdeutsche Versdichtung ist vor etwas mehr als 800 Jahren aufgeschrieben worden, nach einer langen Phase der mündlichen Weitergabe. Wahrscheinlich stammt die älteste Version aus dem Donauraum, wir wissen bis heute nicht, wer sie verfasst hat. Aufbauend auf die germanische Nibelungensage enthält das Nibelungenlied alles, was ein fesselndes Epos braucht: die heldenhaften Taten des Drachentöters Siegfried, die Liebesgeschichte von Kriemhild und Siegfried, die Eroberung Gunthers seiner Frau Brünhild, die nicht mit rechten Dingen zuging, Siegfrieds Tod durch eine List, obwohl er bis auf eine Stelle unverwundbar war, Kriemhilds Rache, den Zug der Burgunder ins Hunnenland und am Ende ein furchtbares Gemetzel. Liebe, Verrat und Tod sind die lauten, Sehnsucht, Vertrauen und Trauer sind die leiseren Themen. Am Nibelungenlied lässt sich die Vorstellungswelt der Ritterzeit in klaren Hierarchien ablesen, was mit ein Grund ist, dass es nahezu ein mittelalterlicher Bestseller wurde, den man an den Höfen kannte. 36 Handschriften sind überliefert, von Mönchen kunstvoll angefertigt.
Eine davon ist „die Unsere“. Um 1320 entstanden, gehört sie zu den vier ältesten vollständigen Nibelungenhandschriften. Eigentlich eine Sensation. Wo sie angefertigt wurde und wer der geübte Schreiber war, ließ sich bisher nicht rekonstruieren. Sie besteht aus 68 Blättern, die Forschung hat ihr den Buchstaben J zugewiesen, damit sie von den anderen Handschriften unterscheidbar ist. Wie sie in die Sammlung von Anton von Annenberg (1427 – 1483) aufs Schloss Annenberg bei Latsch gelangt ist, liegt im Dunkeln. Jemand mag sie mitgebracht haben? Ist sie ihm auf einer Reise in den süddeutschen Raum in die Hände gefallen? Unbekannt. In der großen Bibliothek ist sie gut aufgehoben und in guter Gesellschaft, bis die Annenberger aussterben. Ihre Erben, die Grafen von Mohr, verlegen die Bibliothek auf die Burg Obermontani nach Morter. Als auch ihre Linie im 19. Jahrhundert erlischt, verkommen Burg und Bibliothek. Beda Weber, Pater im Kloster Marienberg, findet auf Montani 1833 „unter zerstörten Fetzen von Büchern“ das Nibelungenlied. Er erwirbt es zusammen mit anderen Schriften um zehn Gulden, um ein Vielfaches wird es nach einigen Umwegen 1835 an die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz nach Berlin verkauft. Es scheint einen blühenden Markt und stolze Preise gegeben zu haben. In der Staatsbibliothek wird die wertvolle Handschrift bis heute verwahrt. Mit einer kleinen Ausnahme, denn momentan befindet sie sich im Kunsthaus Meran, Lauben 163.
Bis zum 19. Mai liegt sie dort in einer gut gesicherten Klimavitrine und wartet auf neugierige Augen. Zwei Projekte umspannen sie: Erstens die von Harald F. Theiss kuratierte Ausstellung I M A G I N E
W O R L D S damals, später, heute im Kunsthaus, die ein assoziatives Netz auslegt, durch das sich die Besucher:innen hangeln können. Mal sind die Bezüge klar, mal verborgen. Die Arbeiten irritieren, stoppen die Betrachter:innnen, lassen sie manchmal angestrengt nach Bezügen raten. Die vom Kurator für diese Ausstellung ausgewählten und kombinierten Objekte von internationalen zeitgenössischen Künstler:innen schaffen Anreize, die Geschichte neu zu denken, sie auseinanderzubauen und neu zusammenzusetzen, sie von dem zu befreien, was sie eigentlich nicht ist: ein Nationalepos. Moderne Kunst hebt die Aventiuren des Nibelungenlieds in weitere Denkräume, indem sie andere Kulturen miteinbezieht, Sozialstrukturen aufzeigt und von aktuellen Diskursen ausgeht. Wer gern eine Orientierungshilfe in Anspruch nehmen möchte, kann unter Voranmeldung und ab 10 Personen eine Führung buchen. Teil der Ausstellung sind auch die Ergebnisse des Beteiligungsprojektes der Klasse 2B aus der Mittelschule „Peter Rosegger“: ein Feuerwerk an Darstellungsmethoden, das die Jugendlichen gezündet haben. Hinter einem schwarzen Vorhang wartet das Herzstück der Ausstellung, die Handschrift von Obermontani. Schauen Sie selbst, was sie mit Ihnen macht. Bis 19. Mai bietet sich die einmalige Gelegenheit, sie zu besuchen. Danach wird der Codex wieder nach Berlin retourniert.
Zweitens wurde ein interdisziplinäres Projekt zwischen Kunsthaus und Akademie Meran realisiert: NIBELUNGEN. die rückkehr. Um den Aufenthalt des Manuskripts in Südtirol zu würdigen, läuft eine Veranstaltungsreihe. Dieser Programmpunkt könnte Vinschger Interessierte besonders ansprechen: Am Samstag, 11. Mai, findet in Latsch im CulturForum ein Nibelungen-abend statt. Vorträge von John Butcher, Elisa Pontini und Michael Dallapiazza behandeln „Ein Dorf und eine mittelalterliche Handschrift: die Latscher Nibelungen“. Beginn ist um 18 Uhr.
Maria Raffeiner