Die Gedanken der 88-jährigen Frau Paula kreisen oft in der Vergangenheit, um ihre Kindheit, um ihre Zeit als Hilfslehrerin in Bergschulen, um die Jahre als Postbeamtin und auch um ihre Trauer nach dem Tod von geliebten Menschen.
von Magdalena Dietl Sapelza
In Erinnerung an ihren Großvater schreibt Paula derzeit Begebenheiten auf, die er ihr einst erzählt hatte. Er war als Bäckergeselle auf der Walz. Auf vielen Höfen konnte er nichts backen, weil das Mehl fehlte. „Noat unt Elend sein groaß gwesn“, erklärt sie.
Auf dem „Steinhaushof“ in Galsaun, wo Paula als Jüngste mit sieben Geschwistern aufwuchs, war immer etwas Essbares da. Im Stall stand Kühe, Schafe und Schweine. Mehrer Äcker wurden bewirtschaftet. Auf einer Wiese an der Etsch reiften „Koltererepfl“ und an den Hängen Trauben, die der Vater zu Wein und Schnaps verarbeitete. „Dr Geischt hot nor a oft schun a gwirkt“, meint sie. Schlechter wurde die Zeiten erst, nachdem sich die Energiegesellschaft Montecatini ein großes Feld angeeignet hatte. „Dr Votr hot di Entschädigungssumme aus Protest nit oungnummen“, verrät sie. Erst später habe das ihr Bruder getan, als die Lira fast nichts mehr wert war. In ihren ersten zwei Schulmonaten in Tschars im Jahre 1939 erhielt Paula Italienischunterricht, der dann vom Deutschunterricht abgelöst wurde. Denn ihr Vater hatte für das „Dritte Reich“ optiert. Paulas Brüder zogen für Hitler in den Krieg. Dann erkrankte ihre Schwester an Tuberkulose. Den Sanatoriumsaufenthalt in Meran bezahlte die Mutter mit Nahrungsmitteln. Die Schwester verlor den Kampf und starb im Alter von 20 Jahren. Die damals achtjährige Paula versuchte die Mutter zu tröstete. Genauso stechend wie der Schmerz über den Verlust waren die Worte des Pfarrers auf der Kanzel, der für die Krankheit der jungen Frau deren Freude am Tanzen verantwortlich machte. Der Tod der Schwester war nicht der einzige Verlust, den Paula erleiden musste. Ein Bruder starb beim Feldzug in Russland und ein weiterer Bruder verunglückte tödlich bei Feldarbeiten. Dazu kam auch noch der Tod der Großeltern und der Eltern innerhalb kürzester Zeit. „Siebn Todesfäll in 15 Johr isch so schiach gwesn, dass i a Trauma davon trogn hon“, verrät sie. „I hon johrelong lei mea fan Friedhof tramt.“ Erst viel später konnte sie das Trauma überwinden.
Paula war eine gute Schülerin. Sie erwarb den Mittelschulabschluss und besuchte die Lehrerbildungsanstalt im Heim der Englischen Fräulein in Meran. Nach dem zweiten Schuljahr nahm sie das Angebot einer Gräfin an, deren Kinder in Rom zu betreuen. Denn die „Ewige Stadt“ faszinierte sie. Nach einem Jahr kehrte sie zurück. Sofort wurde sie gebeten, als Volksschullehrerin in Steinegg einzuspringen. Es herrschte großer Lehrermangel. Die Schulwelt ließ sie daraufhin lange nicht mehr los. Sie unterrichtete in Welsch- und Deutschnofen, im Sarntal, in Passeier und im Vinschgau - immer in Bergschulen. Im Sarntal traf sie auf Kinder, die von ihren ledigen Müttern auf die Höfe in Pflege gegeben worden waren. Den Kleinen, die von Liebe nicht verwöhnt waren, öffnete Paula ihr Herz. „Wenn di Miatr nimmr zohlt hobm, isches di Kindr schlecht gongen“, meint sie. Der Weg von ihrer Unterkunft zur Bergschule führte durch einen Wald. Oft fiel ihr der Mörder Zingerle ein, der einst eine Lehrerin im Wald bei Bozen vergewaltigt und getötet hatte. „Überoll hot ma selm in Zingerle gsechn“, betont sie. Sie nahm allen Mut zusammen und bat den Schulinspektor um Versetzung, die ihr gewährt wurde. Sie kam nach Unterstell bei Naturns und später nach Freiberg bei Kastelbell. Im Postamt in Naturns, wo sie ihr Gehalt holte, lernte sie den Postmeister Francesco Zanella kennen. Er stammte aus Male‘ am Nonsberg und war infolge seiner Kinderlähmung leicht gehbehindert. Das störte sie nicht. Er half ihr beim Ansuchen um eine Stelle bei der Post. „Dr ständige Wechsl in dr Schual isch miar zu streng gwortn“, erklärt sie. Paula heiratete Francesco, den sie Franz nannte im Jahre 1960. Ihren Postdienst begann sie mit ihm in Ulten. Er war kurz zuvor dorthin versetzt worden. 1965 zog das Paar mit ihren zwei Kindern nach Mals. Beide setzten im dortigen Postamt ihren Dienst fort. Paula war von den italienischen Kolleginnen mit offenen Armen empfangen worden, weil sie Deutsch sprach. Die Arbeit ging nie aus. „800 Soldotn, Carabinieri, Finanzer, Beomte unt Lehrer hobm jedn Monat ihr Geholt gholt“, sagt sie. Es war oft nicht einfach die Leute zu vertrösten, wenn das Geld nicht rechtzeitig angekommen war.
Mittlerweile ist Paula längst in Pension und seit 2017 Witwe. Ihren Mann hatte sie nach seiner Leukämieerkrankung mit großer Geduld gepflegt. „Iatz mocht miar mein rechter Knia Sorgen“, verrät sie. Paula verbringt viel Zeit beim Lesen und nun auch beim Schreiben. Die Erzählungen ihres geliebten Großvaters aus einstigen Notzeiten berühren sie: „Heint wissen di Leit nit, wia guats ihnan geaht.“