Mit der Sesshaftwerdung des Menschen durch die sogenannte Neolithische Revolution vor rund 12.000 Jahren in Vorderasien, begann die Zeit des Ackerbaus und der Viehzucht. Aus umherziehenden Jägern, Fischern und Sammlern wurden sesshafte Gruppen. Neben der veränderten Nahrungsbeschaffung, betrifft dieser Prozess aber ebenso soziale, technologische und kulturelle Faktoren. Die Landwirtschaft wurde zur Lebensgrundlage. Das Klima, der Boden und das Wasser zu den bestimmenden Faktoren. Die Bodenbearbeitung und die Wasserversorgung wurden zu den ersten Kulturtechniken, die das Überleben ganzer Gruppen sicherten. Das war in Asien so, genauso wie in Südamerika oder im Vinschgau. Der Talboden im Vinschgau bestand aus Auwäldern, Gewässern und Sümpfen. Auf Schuttkegeln, Hügeln und an Berghängen konnten landwirtschaftliche Flächen gewonnen werden. Die Wasserversorgung musste gesichert und der Boden bearbeitet werden. In trockenen Gebieten wie im Vinschgau wurde ein ausgeklügeltes Netz an Waalen entwickelt. Auch Trockenmauern waren eine weitere Voraussetzung für eine funktionierende Landwirtschaft. Trockenmauerwerk wird heute vor allem im Gartenbau angewandt bzw. als Zyklopenmauern beim Straßenbau oder Wegebau im steilen Gelände. Der Trockenmauerbau prägt ganze Landschaften und ist in vielfältiger Art immer noch sichtbar. Trockenmauern wurden jahrhundertelang als freistehende Mauern, z. B. als Weidebegrenzungen, Grenzen von Äckern und Wiesen oder als Stützmauern, z. B. zur Bildung von landwirtschaftlichen Terrassen in steilen Hanglagen verwendet. Die großen Reisterrassen in Asien, die Terrassenfelder der Inkas in Südamerika sind alte Zeugnisse dieser Kulturtechnik, die weltweit von verschiedenen Völkern entwickelt wurde. Es gibt aber neben der Bedeutung der Trockenmauern im Reis-, Oliven- und Weinbau, auch die Verwendung von Trockenmauern im frühen Haus-, Burgen- oder Kirchenbau. Die vielen alten Nuraghen, die Rundbauten auf Sardinien sind Zeugnisse davon. Auch beim Brunnen- und Wasserbau, beim Straßen- und Wegebau oder dem Bau von Grenzanlagen, werden Trockenmauern verwendet. Steine auf Almweiden wurden zu Steinhaufen zusammengeworfen oder man bildete mit ihnen Grenzmauern zu Nachbaralmen oder man „umzäunte“ damit kleinere Weideflächen für die Nachtruhe oder für besondere Zwecke. Felder, Feldwege, Wanderwege, Weideflächen, Obst- und Weinanlagen und Äcker werden mit lockeren Steinmauern begrenzt. Auf steilen Wiesen und Feldern werden mit Trockenmauern Zufahrtswege bzw. Terrassenfelder angelegt. Nur so konnten viele Wiesen und Felder bearbeitet werden. Durch die Mechanisierung der Landwirtschaft, wurde der Bau bzw. die Restaurierung der Trockenbauten vernachlässigt, bzw. durch den Einsatz von Mörtel oder Beton ersetzt. In den letzten Jahren wurde der bautechnische und ökologische Wert der Trockenmauern wieder erkannt, die alte Bautechnik vielerorts wieder belebt und besonders durch die UNESCO auch gewürdigt und gefördert.
Der Trockenmauerbau wird 2018 in die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen.
Am 28. November 2018 wurde in einer Sitzung auf Mauritius die Kunst des Trockenmauerbaus von der UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt. Die Bewerbung war eingereicht worden von Frankreich, Griechenland, Italien, Slowenien, Spanien, der Schweiz und Zypern. Die Begründung lautete: „Trockenbaumauern verhindern Bergrutsche, Überschwemmungen oder Lawinen und sichern den Boden vor Erosion oder Verwüstung. Außerdem verbessern sie die Biodiversität und schaffen für die Landwirtschaft ein günstiges Mikroklima.“ Außerdem würdigt die UNESCO die Herstellung von Trockenmauern, die „in perfekter Harmonie mit der Natur“ entstehen. Bei der Bautechnik, die ohne jeglichen Mörtel oder andere Bindemittel auskommt, werden bevorzugt Steine aus der direkten Umgebung verwendet. Muss eine Mauer restauriert werden, wird das ursprüngliche Baumaterial wiedereingesetzt. Nachdem die Technik des Trockenmauerns Ende des 20. Jahrhunderts fast vergessen war, werden heute in verschiedenen Ländern Ausbildungen angeboten. Seit 1986 gibt es auf Mallorca beispielsweise die Ausbildung für Trockenmaurer und in Deutschland lernen Landschaftsgestalter diese spezielle Mauertechnik. Auch bei uns wurde die alte Bautechnik des Trockenmauerbaus wieder aufgegriffen. Eine Besonderheit im Vinschgau sind die „Steiln“. Es sind alte Trockenmauern mit Terrassenfeldern am Sonnenberg, vor allem in der Gegend von Schlanders. Mit Hilfe von Gefangenen bzw. Zuchthäuslern sollen sie gebaut worden sein. So konnten auf dem steilen und teilweise unfruchtbaren Sonnenberg schöne und fruchtbare Weinanlagen angelegt werden. Der Bau war sicher nicht einfach und die ganzen Arbeiten mussten größtenteils von Hand ausgeführt werden, auch die Bewässerung war schwierig. Wie Stiegen zum Himmel bilden sie ein besonderes Bild im Mittelvinschgau. Im Frühjahr, wenn die Obstbäume blühen, im Herbst, wenn sich die Blätter färben und im Winter, wenn Schnee auf ihren Flächen liegt und die Trockensteine in der Sonne glänzen. Einige aufgelassene Steilen wurden wieder mustergültig hergerichtet, so dass frisches Obst und Wein gedeihen kann. Wanderer, die vorbeigehen und Autofahrer, die vorbeifahren, können diese prächtigen Anlagen bewundern, diese Bautechnik, sowie den Einsatz und Fleiß unserer Vorfahren bestaunen.
Heinrich Zoderer