Die Bartgeier in den Zentralalpen
Die Anzahl der Brutpaare in den Zentralalpen ist im Jahre 2012 auf 9 angewachsen. Vier dieser Brutpaare sind in den lombardischen Tälern des Nationalparks Stilfserjoch oder in unmittelbarer Nähe angesiedelt, fünf im Engadin bzw. in weiteren graubündner Tälern. Zwei der engadiner Paare haben sich erst 2011 neu gebildet und 2012 erstmals gebrütet. Insgesamt haben von den 9 Paaren 2012 6 eine Brut begonnen. Bei 4 der 6 Paare ist die Brut bereits vor dem Schlupf des Jungvogels misslungen. Von den 2 Paaren „Livigno“ und „Albula“ ist je ein Jungvogel flügge geworden.
In den Ötztaler Alpen hat sich im Vinschgau ein neues Bartgeierpaar gebildet. Und wir dürfen auf die erste Brut gespannt sein.
Die höchste Erfolgsrate
Seit der 1. Naturbrut des Paares „Braulio“ im Jahre 1998 sind von den oben genannten 9 Paaren insgesamt 61 Bruten unternommen worden. Daraus sind 43 Junggeier flügge geworden. Dieses Verhältnis 43/61 entspricht einem Aufzuchtserfolg von 70%. Diese Verhältniszahl ist als die höchste Bruterfolgsrate im gesamten Alpenbogen zu verzeichnen. Die Zahl ist auch ein direkter Hinweis, dass sich die Habitate oberhalb der Waldgrenze in den Tälern um den Ortler-Cevedale-Stock mit den hohen Beständen an Huftieren und entsprechendem Fallwild für den Bartgeier besonders gut eignen.
2012 – ein Ausreißer-Jahr
Mit nur zwei ausgeflogenen Jungvögeln von 9 Paaren, wovon 6 eine Brut begonnen haben, bleibt das Jahr 2012 aber ein Jahr mit einem außerordentlich niedrigen Bruterfolg (33%). Die Gründe hierfür sind noch nicht hinreichend geklärt. Ein Versuch einer Erklärung ist der schneearme Winter mit geringen Stückzahlen an Fallwild und Aas. Ein weiteren Ansatz zur Erklärung liegt in der zunehmenden Anzahl von unverpaarten Individuen und immaturen Jungvögeln, welche immer häufiger die Brutterritorien verpaarter Bartgeier bestreichen. Durch diese Einflüge kommt es zu arteigenen Interaktionen und Störungen der Brutpaare durch „Junggesellen“. Diese artspezifischen Interaktionen erhöhen den Stress unter den Geiern. Und der erhöhte Stress könnte die verpaarten Vögel davon abhalten, großen Aufwand in das Brutgeschäft zu investieren.
Die alpenweite Situation
Insgesamt sind im Jahre 2012 im gesamten Alpenbogen 10 Junggeier aus Naturbruten flügge geworden, die Mehrzahl davon diesmal in den Westalpen. Erfreulich ist, dass 2012 mit den 2 Jungvögeln im Piemont erstmals auch Bartgeier im italienischen Teil der Alpen außerhalb des Nationalparks Stilfserjoch geboren wurden.
Die Ergebnisse in den Aufzuchtstationen
Für das Wiederansiedlungsprojekt stehen 31 Vogelpaare in Aufzuchstationen und Zoos zur Verfügung. Im Jahre 2012 haben alle 31 Zuchtpaare eine Brut begonnen und und aus 25 Eiern sind Küken geschlüpft. Flügge geworden sind davon 19 Jungvögel. 10 Jungtiere konnten für weitere Freilassungen an 5 Orten in Kärnten, St. Gallen, Argentera Alpi Marittime und in Frankreich zur Verfügung gestellt werden. Bis heute wurden seit der 1. Freilassung im Jahre 1986 insgesamt 186 Junggeier aus Zuchten in Volieren freigelassen.
Und seit der ersten erfolgreichen Brut im Freiland im Jahre 1997, elf Jahre nach dem Start des Wiederansiedlungsprojektes, sind im Alpenbogen bis 2012 insgesamt 92 Junggeier aus Naturbruten flügge geworden. Die im Freiland geborenen Junggeier machen derzeit 33,5% der Alpenpopulation aus (Angabe: SCHWARZENBERGER, A. und ZINK, R. in „infogipeto“ Nr. 29 Dezember 2012).
Geringe genetische Variabilität
Die Schweizer Forscherin Franziska Lörcher hat im Rahmen ihrer Masterarbeit an der Universität Zürich die genetische Variabilität der Bartgeier in den Alpen untersucht. Die Ergebnisse zeigen eine derzeit sehr niedrige genetische Variabilität: Von 38 Gründervögeln tragen nur 7 mit ihren Nachkommen zu 50% an der derzeitigen Population bei. Damit besteht ein beträchtliches Risiko von Inzucht innerhalb weniger Generationen mit erhöhter Krankheitsanfälligkeit. Um diesen Flaschenhals zu überwinden, müssen daher bei den nächsten Freilassungen möglichst Vögel mit fremden Blutlinien ausgewildert werden.
Satellitentelemetrie
Der Schweizer Biologe Daniel Jegglin ist im Rahmen des alpenweiten Monitorings zuständig für die Auswertung der Daten aus der Satellitentelemetrie. Von den 10 im Jahre 2012 freigelassenen Junggeiern konnten 8 mit einem Satellitensender ausgestattet werden. Von 9 weiteren, in den Jahren 2010 und 2011 besenderten Vögeln sind 2012 noch Satellitendaten eingegangen. Insgesamt waren im Zeitraum eines Jahres von Dezember 2011 bis November 2012 ca. 21.000 Ortungen möglich. Damit hat sich unser Bild von den Bewegungsradien und der Raumnutzung durch die Bartgeier weiter vervollständigt.
Die Reise von Jakob
Beispielhaft sei hier die beeindruckende Sommer-Reise von Jakob erwähnt. Das Bartgeier-Männchen Jakob stammt aus einer Zoo-Geburt und war 2011 im Nationalpark Hohe Tauern freigelassen worden. Im Mai 2012 ist der einjährige Jakob von den Hohen Tauern an die Holländische Meeresküste geflogen. Dort hat er einige Tage verbracht. Anschließend konnte er 25 km vom Stadtzentrum von Paris geortet werden. In der 1. Juniwoche ist Jakob dann bei Valence im Rhontetal lokalisiert worden, um danach wieder, den Alpenbogen von West nach Ost querend, in die Hohen Tauern zurückzukehren.
Nochmals: Bleivergiftungen
Leider mussten im Berichtsjahr wieder 3 Fälle von aufgefundenen Bartgeiern mit Bleianreicherung im Blut und im Körper registriert werden. Das Blei kommt über die Nahrungskette in die Vogelkörper, wenn die Vögel Eingeweide von Wildtieren aufnehmen, welche nach dem jagdlichen Abschuss von Huftieren mit Bleimunition im Freiland verbleiben. Blei als Schwermetall führt zu Lähmungen mit Flugunfähigkeit und Organversagen. Eine Dosis von 150 Mikrogramm pro Deziliter Blut gilt für Bartgeier als letal.
„Lousa“, das Bartgeierweibchen BG 619 war 2010 in Vercors (F) freigelassen worden. 2012 wurde der Vogel geschwächt, aber lebend in Vorarlberg aufgefunden. Der Bleigehalt im Blut betrug 8,5 Mikrogramm/Deziliter. Der Vogel befindet sich derzeit in Pflege an der Zuchtstation Haringsee von der Veterinärmedizinischen Universität Wien, ist aber noch nicht wieder flugfähig.
„Glocknerlady“ ist das Weibchen BG 718, welches am 23. Juni 2012 im Nationalpark Hohe Tauern freigelassen worden war. Am 3. November 2012 wurde der Vogel in Slowenien lebend, aber in einem sehr schlechten Zustand aufgefunden. Die Laboranalysen ergaben den unglaublichen Bleigehalt von 656,4 (!) Mikrogramm pro Deziliter. Auch dieser Vogel wird in Haringsee gepflegt und kann inzwischen wieder fliegen.
„Nikolaus“, das Weibchen BG 138 wurde am 20. Jänner 2012 bei Matrei in Osttirol tot aufgefunden. Neben einer Bleiintoxikation im Blut wurden im Röntgenbild auch drei Schrotkugeln aus einer Schussverletzung festgestellt. Nikolaus war 1991 in Rauris in den Hohen Tauern freigelassen worden. Ihr Brutversuch mit einem Partner im Jahre 2001 war der erste im Freiland in Österreich seit 1880. Nach dem Verlust ihres Partners hat das Weibchen 11 Jahre als solitäre „Witwe“ im Nationalpark Hohe Tauern verbracht, ohne sich neu zu verpaaren und ohne sich fortzupflanzen.
Die sich häufenden Fälle von Bleivergiftungen bei Aasfressern, Greifvögeln, gründelnden Entenvögeln und im Schlick schlappernden Flamingos müssen zu einem verstärkten Bemühen im Austausch der Bleimunition bei der Jagd führen.
Zeitung Vinschgerwind Bezirk Vinschgau