Montag, 29 Oktober 2012 00:00

Der Herr Alfred und das Lachen

Artikel bewerten
(0 Stimmen)

Vill-neuEs schneit. Allerseelen. Still tanzende Flocken bedecken die Grabsteine des Friedhofs von Kortsch. Sie sind meist aus weißem Marmor gemeißelt, so auch die fast lebensgroße Christusbüste beim Kircheneingang. Auf dem Kopf wächst langsam eine Kappe aus Schnee, eine Pelzmütze. Wie für Menschen in Russland. Und um den Mund herum entsteht sogar ein Schnauzbart. Der Herr Alfred zeigt auf die Gestalt mit der Schneemütze und ruft lachend: „Das ist der Stalin!“
Sein Lachen ist heiter und befreiend. Immer wieder veranlassen ihn völlig harmlose Gegenstände, alltägliche Beobachtungen oder Gedankenverbindungen zu nicht unterdrückbarem, aber heftig schüttelndem Lachen. Das passiert ihm auch während der Messe, wo er eigentlich ernst bleiben sollte. Und sein Lachen ist ansteckend. Es ergreift alle Kirchenbesucher, sodass sie nach Hause geschickt werden müssen.
Der Stalin als Christus oder der Christus als Stalin ... der Lachzwang des Priesters wird zwar von den Medizinern als nervöses Leiden, als Lachkrankheit bezeichnet, er ist aber mehr als nur ein physisches Leiden. Es ist ein metaphysisches Lachen, entstehend aus weltgeschichtlichen Ungereimtheiten oder aus lächerlichen Narreteien der Menschen.
Der geistliche Herr Alfred Mahlknecht stammt aus Bozen/Gries, war seit 1927 Expositus in Kortsch, wo er sehr beliebt war und diesen Dienst bis 1967 versah. Der langjährige Seelsorger war sehr gebildet, gütig, ausgleichend, tolerant und außerordentlich musisch begabt, ähnlich darin seinem Priesterbruder Joseph.
Er hat im Laufe seiner seelsorgenden Tätigkeit und dem Unterrichten die ganze Jugend von Kortsch persönlich kennen gelernt. Und auch die Sorgen einiger Mütter. Sie wollten von ihm unterstützt werden bei der Lösung eines besonderen Problems: Die frommen Bäuerinnen waren nämlich besorgt, weil ihre Töchter, die im nahen Münstertal, im Engadin oder anderswo in der Schweiz Arbeit gesucht und gefunden hatten, in ihrer katholischen Überzeugung gefährdet wären. Es waren karge Zeiten, die Jahre zwischen den Kriegen und noch lange danach. Die als fleißig und tüchtig geltenden Kortscherinnen haben sich an die neue Umgebung gewöhnt, lernten die Nachbarn schätzen und haben sich auch verliebt.
Daraus entstanden Ehen und somit - für damalige Begriffe - Tragödien. Händeringend kamen einige Mütter zum Herrn Alfred, dem diesmal nicht zum Lachen war. Er musste die Frauen trösten und wohl auch aufklären: „Liebe Frau, der Herrgott der Evangelischen ist derselbe wie unser Gott - wir sind alles Christenmenschen“!
Der Herr Alfred forderte sie sogar auf, für die schweizerischen Eheleute zu beten, auch wenn die Kinder evangelisch-reformiert aufgezogen wurden. Die Frauen verzogen sich unverrichteter Dinge und wunderten sich über den Herrn Alfred.
IMG_1067_2Auch Christus ist verwundert. Ich meine damit ein Holzkreuz am östlichen Eingang von Schlanders, um das sich heute wilder Wein rankt. Jetzt um Allerheiligen verfärben sich die Blätter, bald fallen sie ab und dann umflicht feingliedriges Astwerk das Kreuz. Wie Gedanken, wie Gebete aus dem Boden aufsteigend.
Hier bei den „Drei Kreuz“ stand fünf Jahrhunderte lang eine künstlerisch wertvolle Gruppe, bestehend aus einem großen Kreuz und den lose dazugestellten Gestalten von Maria und Johannes; sie wurden beim Kriegsende 1945 gestohlen. Geblieben ist nur der gotische Christus. Aus Sicherheitsgründen und zum Schutz des wertvollen Bildes wird es seit einigen Jahren in der Totenkapelle, also in der Michaelskirche, aufbewahrt.
Dadurch entstand eine leere Ecke, ein leeres Holzkreuz ohne Korpus. Deshalb hat die Nachbarin, Frau Gertrud Meister, meinen Bruder Peppi beauftragt, ein Kreuz zu schnitzen, was er dann auch gemacht hat. Nun war aber mein Bruder eigentlich kein Künstler, aber seine naiven Schnitzarbeiten wurden durchaus geschätzt und auch dieses Kreuz fand Gefallen.
Der Gesichtsausdruck dieses Gekreuzigten ist irgendwie anders, nicht leidend oder verzweifelt, nicht betend oder verzagend, sondern verwundert. Jesus wundert sich über das rege Treiben hier an der Kreuzung, aber auch über die Rechthaberei. Er wundert sich über sich bekämpfende christlicher Bekenntnisse. Der Christus der Verwunderung staunt über die Tatsache, dass aus seiner Botschaft immer mehr Sekten entstehen. Und Zulauf bekommen, besonders auch hier im Vinschgau.
Vielleicht wundert sich darüber auch mein toten Bruder Peppi. Oder höre ich jetzt zu Allerheiligen auch das Lachen des Herrn Alfred?
Das metaphysische Lachen aus einem fernen Himmel über all die Torheiten religiöser und weltanschaulicher Rechthabereien.

Hans Wielander

Zeitung Vinschgerwind Bezirk Vinschgau


Warning: count(): Parameter must be an array or an object that implements Countable in /www/htdocs/w00fb819/vinschgerwind.it/templates/purity_iii/html/com_k2/templates/default/item.php on line 248
Gelesen 2720 mal

Schreibe einen Kommentar

Make sure you enter all the required information, indicated by an asterisk (*). HTML code is not allowed.

Ausgaben zum Blättern

titel 19 24

titel Vinschgerwind 18-24

titel vinschgerwind 17-24

 sommerwind 2024

 

WINDMAGAZINE

  • Jörg Lederer war ein Holzschnitzer aus Füssen und aus Kaufbeuren. Die Lederer-Werkstatt hat viele Aufträge im Vinschgau umgesetzt. Wer will, kann eine Vinschgautour entlang der Lederer-Werke machen. Beginnend in Partschins.…
    weiterlesen...
  • Die Burgruine Obermontani bei Morter am Eingang ins Martelltal wurde für einen Tag aus ihrem "Dornröschenschlaf" wachgeküsst. von Peter Tscholl Die Akademie Meran, die Gemeinde Latsch und die Bildungsausschüsse Latsch…
    weiterlesen...
  • Vinschger Radgeschichten - Im Vinschgau sitzen alle fest im Sattel: Vom ultraleichten Carbon-Rennrad bis hin zum E-Bike mit Fahrradanhänger, Klapprad, Tandem oder Reisefahrrad. Eine Spurensuche am Vinschger Radweg. von Maria…
    weiterlesen...
  • Kürzlich wurde von den Verantwortlichen im Vintschger Museum in Schluderns das Kooperationsprojekt Obervinschger Museen MU.SUI gestartet. Es handelt sich um den gemeinsamen Auftritt der Museen in Schluderns VUSEUM/Ganglegg, Mals, Taufers…
    weiterlesen...
  • Blau, dunkelgrün, schneeweiß schäumend, türkis oder azur - Wasserwege im Vinschgau von Karin Thöni Wasser ist Quell des Lebens und unser kostbarstes Gut. Aber es wird knapper. Der „Wasserfußabdruck“ jedes…
    weiterlesen...
  • Martin Ohrwalders Liebe zu den Pferden muss ihm wohl in die Wiege gelegt worden sein. Bereits im Alter von drei Jahren schlug er seiner Mutter vor, die Garage in einen…
    weiterlesen...
  • Manfred Haringer ist Sammler, Modellbauer und Heimatforscher. Im letzten Jahr konnte er seinen alten Traum verwirklichen. In seinem Elternhaus in Morter, wo bis Ende des Zweiten Weltkrieges die Dorfschule untergebracht…
    weiterlesen...
  • Die historische Bedeutung von Schlossruinen und ihre Geschichte faszinieren die Menschen. Mit mehreren Revitalisierungsmaßnahmen erwacht derzeit die Ruine Lichtenberg in der Gemeinde Prad am Stilfserjoch zu neuem Leben. von Ludwig…
    weiterlesen...
  • Il grano della Val Venosta era conosciuto e apprezzato in tutto l' impero Austroungalico. Testo e Foto: Gianni Bodini Oggi sono i monotoni ed estesi meleti punteggiati da pali in…
    weiterlesen...
  • Questa importante strada romana attraversava tutta la Val Venosta. Testo e Foto: Gianni Bodini Iniziata da Druso nel 15 a.C., venne completata dall’imperatore Claudio Cesare Augusto. Questa importante via transalpina…
    weiterlesen...
  • von Annelise Albertin Das Val Müstair mit seiner intakten Naturlandschaft und den kulturellen Besonderheiten ist das östlichste Tal der Schweiz. Es liegt eingebettet zwischen dem einzigen Schweizerischen Nationalpark, den „Parc…
    weiterlesen...
  • Eine Symbiose zwischen der Geschichte und dem Lebensraum rund um das kunsthistorische Hotel „Chasa Chalavaina“ im benachbarten Val Müstair von Christine Weithaler Das Hotel Chasa Chalavaina wurde am 13. November…
    weiterlesen...

Sommerwind 2024

zum Blättern

Sommer Magazin - Sommerwind 2024 - Bezirk Vinschgau Südtirol - Wandern, Menschen, Urlaub, Berge, Landschaft, Radfahren, Museen, Wasser, Waale, Unesco, Tourismus

wanderfueher 2024 cover

zum Blättern

Wanderführer 2024 - Bezirk Vinschgau Südtirol - Traumhafte Touren Bergtouren Wanderungen Höhenwege

 

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.