Es schneit. Allerseelen. Still tanzende Flocken bedecken die Grabsteine des Friedhofs von Kortsch. Sie sind meist aus weißem Marmor gemeißelt, so auch die fast lebensgroße Christusbüste beim Kircheneingang. Auf dem Kopf wächst langsam eine Kappe aus Schnee, eine Pelzmütze. Wie für Menschen in Russland. Und um den Mund herum entsteht sogar ein Schnauzbart. Der Herr Alfred zeigt auf die Gestalt mit der Schneemütze und ruft lachend: „Das ist der Stalin!“
Sein Lachen ist heiter und befreiend. Immer wieder veranlassen ihn völlig harmlose Gegenstände, alltägliche Beobachtungen oder Gedankenverbindungen zu nicht unterdrückbarem, aber heftig schüttelndem Lachen. Das passiert ihm auch während der Messe, wo er eigentlich ernst bleiben sollte. Und sein Lachen ist ansteckend. Es ergreift alle Kirchenbesucher, sodass sie nach Hause geschickt werden müssen.
Der Stalin als Christus oder der Christus als Stalin ... der Lachzwang des Priesters wird zwar von den Medizinern als nervöses Leiden, als Lachkrankheit bezeichnet, er ist aber mehr als nur ein physisches Leiden. Es ist ein metaphysisches Lachen, entstehend aus weltgeschichtlichen Ungereimtheiten oder aus lächerlichen Narreteien der Menschen.
Der geistliche Herr Alfred Mahlknecht stammt aus Bozen/Gries, war seit 1927 Expositus in Kortsch, wo er sehr beliebt war und diesen Dienst bis 1967 versah. Der langjährige Seelsorger war sehr gebildet, gütig, ausgleichend, tolerant und außerordentlich musisch begabt, ähnlich darin seinem Priesterbruder Joseph.
Er hat im Laufe seiner seelsorgenden Tätigkeit und dem Unterrichten die ganze Jugend von Kortsch persönlich kennen gelernt. Und auch die Sorgen einiger Mütter. Sie wollten von ihm unterstützt werden bei der Lösung eines besonderen Problems: Die frommen Bäuerinnen waren nämlich besorgt, weil ihre Töchter, die im nahen Münstertal, im Engadin oder anderswo in der Schweiz Arbeit gesucht und gefunden hatten, in ihrer katholischen Überzeugung gefährdet wären. Es waren karge Zeiten, die Jahre zwischen den Kriegen und noch lange danach. Die als fleißig und tüchtig geltenden Kortscherinnen haben sich an die neue Umgebung gewöhnt, lernten die Nachbarn schätzen und haben sich auch verliebt.
Daraus entstanden Ehen und somit - für damalige Begriffe - Tragödien. Händeringend kamen einige Mütter zum Herrn Alfred, dem diesmal nicht zum Lachen war. Er musste die Frauen trösten und wohl auch aufklären: „Liebe Frau, der Herrgott der Evangelischen ist derselbe wie unser Gott - wir sind alles Christenmenschen“!
Der Herr Alfred forderte sie sogar auf, für die schweizerischen Eheleute zu beten, auch wenn die Kinder evangelisch-reformiert aufgezogen wurden. Die Frauen verzogen sich unverrichteter Dinge und wunderten sich über den Herrn Alfred.
Auch Christus ist verwundert. Ich meine damit ein Holzkreuz am östlichen Eingang von Schlanders, um das sich heute wilder Wein rankt. Jetzt um Allerheiligen verfärben sich die Blätter, bald fallen sie ab und dann umflicht feingliedriges Astwerk das Kreuz. Wie Gedanken, wie Gebete aus dem Boden aufsteigend.
Hier bei den „Drei Kreuz“ stand fünf Jahrhunderte lang eine künstlerisch wertvolle Gruppe, bestehend aus einem großen Kreuz und den lose dazugestellten Gestalten von Maria und Johannes; sie wurden beim Kriegsende 1945 gestohlen. Geblieben ist nur der gotische Christus. Aus Sicherheitsgründen und zum Schutz des wertvollen Bildes wird es seit einigen Jahren in der Totenkapelle, also in der Michaelskirche, aufbewahrt.
Dadurch entstand eine leere Ecke, ein leeres Holzkreuz ohne Korpus. Deshalb hat die Nachbarin, Frau Gertrud Meister, meinen Bruder Peppi beauftragt, ein Kreuz zu schnitzen, was er dann auch gemacht hat. Nun war aber mein Bruder eigentlich kein Künstler, aber seine naiven Schnitzarbeiten wurden durchaus geschätzt und auch dieses Kreuz fand Gefallen.
Der Gesichtsausdruck dieses Gekreuzigten ist irgendwie anders, nicht leidend oder verzweifelt, nicht betend oder verzagend, sondern verwundert. Jesus wundert sich über das rege Treiben hier an der Kreuzung, aber auch über die Rechthaberei. Er wundert sich über sich bekämpfende christlicher Bekenntnisse. Der Christus der Verwunderung staunt über die Tatsache, dass aus seiner Botschaft immer mehr Sekten entstehen. Und Zulauf bekommen, besonders auch hier im Vinschgau.
Vielleicht wundert sich darüber auch mein toten Bruder Peppi. Oder höre ich jetzt zu Allerheiligen auch das Lachen des Herrn Alfred?
Das metaphysische Lachen aus einem fernen Himmel über all die Torheiten religiöser und weltanschaulicher Rechthabereien.
Hans Wielander
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