Christoph Alber: Wir haben viele Dienste, die sich um Menschen in verschiedensten Lebensbereichen kümmern. Diese Dienste kommunizieren untereinander leider nicht immer so, wie es die Menschen brauchen. Besonders wenn es um die ersten Tage rund um ein Neugeborenes geht, gibt es zwar viele Hilfen, aber die jungen Mütter wissen nicht immer, an wen sie sich wenden können. Auch umgekehrt: Die Fachleute im sozialen Bereich und im sanitären Bereich wissen oft nicht, wer der richtige Ansprechpartner für spezielle Probleme ist. Deswegen ist die Initiative, die von der Direktorin der Sozialdienste ausgegangen ist, sich besser kennenzulernen und ein Netzwerk aufzubauen, für die Leute, für die jungen Mütter eine gute Sache.
Vinschgerwind: Die ersten 1.000 Tage rund um die Geburt sind ein Bereich, der von der Gesellschaft nicht abgedeckt ist. Welche Erfahrungen im Vinschgau liegen zugrunde, um bestehende Angebote besser miteinander zu vernetzen?
Karin Tschurtschenthaler: Die Idee für ein solches Netzwerk ist bereits 2012 entstanden. Wir haben gemeinsame Fortbildungen mit Fachkräften aus der Sanität und aus dem sozialen Bereich organisiert, vor allem in Hinblick auf Mütter mit psychischen Problemen. Es hat sich gezeigt, dass Eltern mit Problemen oft von Pontius bis Pilatus geschickt worden sind, gerade in den ersten 1.000 Tagen. Dass Eltern nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen und dass daraus Stresssituationen mit, erlauben Sie mir das harte Wort, Kollateralschäden entstanden sind, war für uns Anlass, dieses Netzwerk anzugehen. Tatsache ist, dass es Eltern gibt, die in den ersten 1.000 Tagen rund um die Geburt überfordert sind.
Vinschgerwind: Wenn im Krankenhaus Mütter mit Neugeborenen entlassen werden, hat das Krankenhaus seine Schuldigkeit getan?
Christoph Alber: Das sehe ich nicht so. Wir berücksichtigen auch die Situation vor der Geburt. Sobald eine Schwangerschaft bekannt wird, verändert sich die Lebenssituation grundlegend. Eine werdende Mutter etwa, ohne soziales Umfeld, die im Vinschgau ist oder in den Vinschgau kommt, wird vor einer riesigen Herausforderung gestellt, der nicht alle Mütter oder junge Eltern gewachsen sind. Wir beginnen bereits vor der Geburt, z.B. mit den Sprechstunden bei unseren Hebammen und Gynäkologen. Man muss bereits vor der Geburt eines Kindes ein belastbares Netzwerk knüpfen welches dann über die Geburt hinaus, also auch nachher noch greift, und deshalb ist dieses Netzwerk entstanden und besonders wichtig.
Vinschgerwind: Wie kann sich eine junge Mutter, wie können sich junge Eltern orientieren?
Karin Tschurtschenthaler: Es gibt unterschiedliche Zugänge. Der Erstkontakt findet normalerweise im Krankenhaus bei der Hebamme/Gynäkologen statt. Wussten diese vor der Gründung des Netzwerkes oft nicht, an wen sie sich bei z.B. unterschiedlichen Schwierigkeiten wenden konnten,ist dies mittlerweile anders und können den Kontakt mit den Sozialdiensten aufbauen. Die Sozialdienste können dann, um ein Beispiel zu nennen, die Familienhilfe aktivieren, so dass die Mitarbeiterinnen drei Monate lang ins Haus kommen, um die Mutter zu entlasten. Bisher war die Zusammenarbeit zwischen Sanität und Sozialdiensten manchmal schwierig und nicht immer ganz klar. Das war mit ein Grund, uns gegenseitig über die Angebote zu informieren.
Vinschgerwind: Jeder Teil dieses Netzwerkes muss also abschätzen können, wohin eine junge Mutter weitergeleitet werden soll?
Christoph Alber: Ich würde es nicht weiterleiten nennen. Ein konkretes Beispiel: Die Hebamme erkennt im Zuge ihrer Betreuung in einem Vertrauensgespräch, dass es der Schwangeren nicht gut geht, etwa, dass sie mit ihrer Schwangerschaft vom Freund allein gelassen worden ist und somit in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist und mit der Gesamtsituation überfordert ist. Der mögliche Bedarf, finanzieller Hilfe wird ersichtlich. Heute wissen wir, wen wir bei unseren Sozialpartnern kontaktieren können und es wird schnell und unbürokratisch geholfen. Oder der Fall, dass eine Mutter ihr Kind nach der Geburt ablehnt. Mit dem Netzwerk können wir zielgerichteter schnelle Hilfe, psychologische etwa, oder eben über die Sozialdienste abrufen.
Vinschgerwind: Waren es die Erfahrungen der Sozialdienste von Eltern, die nach der Geburt eines Kindes in Schwierigkeiten geraten sind, die Triebfeder für dieses Netzwerk waren?
Karin Tschurtschenthaler: Ja und Nein. Es hat einige Situationen gegeben, in denen junge Frauen, die von den Sozialdiensten betreut worden sind, schwanger geworden sind. Obwohl wir versucht haben mit dem Krankenhaus das Möglichste zu organisieren, sind einige Dinge nicht so gut gelaufen. Das wollten wir gemeinsam ändern. Es ist heute schon feststellbar, dass Eltern bereits von diesem neuen Netzwerk profitieren. Wir sprechen mittlerweile die gleiche Sprache, weil wir gemeinsame Fortbildungen machen und uns regelmäßig austauschen. Es hat sich ein gegenseitiges Verständnis herausgebildet.
Vinschgerwind: In der Geburtenstation Schlanders sind es jährlich etwa 400 Geburten. Kann man abschätzen, wie viele davon soziale, finanzielle oder psychische Probleme nach sich ziehen?
Christoph Alber: Das soll und kann man so nicht nennen, denn leicht verfällt man so in das „Schubladendenken“. Wir reden nicht nur von Kindern, die im Krankenhaus geboren werden, sondern es werden auch Kinder in anderen Krankenhäusern geboren oder es kommen auch junge Eltern von außen in den Vinschgau. Auch diese jungen Mütter profitieren von dieser Zusammenarbeit. Es geht einfach um das Faktum, den jungen Eltern, den jungen Müttern und den Neugeborenen den bestmöglichen Start in ein neues unbekanntes Leben gewähren zu können.
Karin Tschurtschenthaler: Ich stelle fest, dass es ein gesellschaftliches und im Steigen begriffenes Phänomen ist, dass junge Eltern nach der Geburt ihres Kindes in Schwierigkeiten geraten können. Die Situationen, denen wir begegnen, sind sehr komplex.
Christoph Alber: Man muss auch feststellen, dass die Geburt in der Gesellschaft oft mehr als pathologische denn als natürliche Angelegenheit angesehen wird. Das ist falsch. Die Lebensumstände sind vor allem auch arbeitsbedingt von Stress geprägt und das ist für werdende Mütter nicht förderlich. Wir werden auch möglicherweise vermehrt junge Eltern in finanziellen Schwierigkeiten antreffen.
Vinschgerwind: Welche Ziele bzw. welche Erwartungen werden mit dem „Netzwerk frühe Hilfe“ verfolgt bzw. verknüpft?
Karin Tschurtschenthaler: Das Netzwerk steht und es soll gestärkt und verstärkt werden. Es soll stabil werden, die Kooperation und der Austausch unter den Fachleuten muss gefestigt werden. Ziel ist es, so vielen Menschen wie möglich möglichst frühzeitig helfen zu können. Gerade die Übergänge, die sich lange Zeit als holprig erwiesen haben, möglichst sanft bzw. möglichst effizient gestalten zu können. Es darf einfach nicht mehr passieren, dass junge Mütter ziellos von A nach B geschickt werden. Wir wollen uns gemeinsam weiterentwickeln und viele notwendige Partner mit ins Boot holen.
Christoph Alber: Das größte Ziel für mich ist es, den Neugeborenen einen möglichst stressfreien Beginn zu ermöglichen. Wir wissen aus der Wissenschaft und Forschung, dass Stress in der Schwangerschaft negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Neugeborenen haben kann. Nicht nur vom medizinischen her gesehen, sondern auch vom sozialen Umfeld. Ziel des Netzwerkes ist es, einen Teil des Stresses von den werdenden Eltern zu nehmen. Und Ziel ist es auch, das Netzwerk so eng wie möglich zu knüpfen. Wir haben tolle Sozialpartner, tolle Strukturen im Krankenhaus und in den Sprengeln: Dass heute eine Frau z.B. vom Finanziellen her nicht weiß, wie sie über die Runden kommen kann, nur weil sie Mamma geworden ist, das darf es in der heutigen Zeit in einem gut aufgestellten Land wie unserem, nicht geben.
Moderation: Erwin Bernhart
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