In Südtirol fürchten die Bewohner im August ’87 vor allem Muren und Überschwemmungen. Niemand äußert öffentlich Bedenken wegen der Stauseen. Dabei droht auch hier Gefahr: Im Martelltal ist der Zufrittstausee gefährlich voll. Viel mehr Wasser als an diesem 24. August kann er nicht fassen. Der Höchststand ist beinahe erreicht, satte Gewinne aus der Stromproduktion sind der Betreibergesellschaft Selm-Montedison sicher. Und es regnet immer weiter, bis hinauf ins Hochgebirge: Dort schneit es nicht wie vorhergesagt, es regnet.
Die Marteller fürchten vor allem Muren von den Flanken des Tales. Ihre Feuerwehr überwacht deshalb alle Risikozonen. Am Nachmittag findet im Dorf ein Begräbnis statt. Viele Marteller nehmen daran teil. Unter den Trauergästen ist auch der Hauptschleusenwärter des Zufrittstausees. Er hat sich freigenommen. Während seiner Abwesenheit versieht auf der Staumauer Giovanni Spada aus Morter Dienst.
Spada bekommt es an diesem Nachmittag mit der Angst zu tun. Zu hoch scheint ihm der Wasserstand des Stausees. Auch fürchtet er eine Notsituation: Noch nie ist eine solche eingetreten.
Also fragt er per Funk um Rat nach, unten in der Kastelbeller Zentrale, bittet um Anweisungen. Später wird gemutmaßt, er habe auch um die Genehmigung zur Öffnung des Überlaufes gebeten. Die Techniker in Kastelbell nehmen ihn nicht ernst. Sie unterschätzen die Lage, beschwichtigen. So füllt sich der See weiter und weiter. Derweil kehren die Trauergäste heim, während die Feuerwehrleute ihren Dienst versehen. Das Dorf wartet auf Nachrichten von Vermurungen. Den See erwartet es nicht.
Die Muren kommen am späten Nachmittag. Sie versperren die Straße zum Stausee, unterbrechen die Telefonleitung. Die Männer vom Landesstraßendienst sperren die Straße mit Hinweisschildern. Der See und sein einsamer Wärter sind abgeschnitten. Der Schleusenwärter will nach dem Begräbnis zurück an seinen Arbeitsplatz. Wegen der Sperren kommt er nicht mehr ins Tal hinein. Auch der Weg aus dem Tal heraus wird beim Bronta-Bach ober Morter im Laufe des Tages gesperrt. Martell ist nun abgeschnitten.
Gegen acht Uhr begibt sich Erwin Altstätter, der Bruder des Hauptschleusenwärters und damaliger Bürgermeister des Ortes, nach Hause. Er will sich über die Nachrichten über das Geschehen im Lande informieren. Kaum daheim angekommen, hört er die Sirenen und im selben Moment läutet auch schon das Telefon: „Der Flint-Bach hat eine Mure ausgelöst.“ Sofort macht er sich auf den Weg. An der kritischen Stelle angekommen, erfährt er, dass die schlimmste Gefahr bereits vorüber sei. Weder haben die Schlammmassen die Brücke eingerissen, noch hat der Bach sein Bett verlassen. Ein kurzer Kontrollgang zur Plima folgt: In einer Kurve oberhalb von Gand bietet sich ein guter Blick auf den Schreckensbach der Marteller. Doch Gefahr scheint von der Plima kaum auszugehen. Das für rund 80 Kubikmeter ausgelegte Bachbett hält den Wassermassen stand. Der Bürgermeister fährt also weiter, diesmal zum Dorfanfang. Dort begutachtet er den Salt-Graben, kehrt dann um und fährt wieder zum Beobachtungsposten an der Plima.
In der Zwischenzeit hat sich für den Schleusenwärter auf der Staumauer die Situation verschlimmert. Entgegen aller beruhigenden Mutmaßungen seiner Vorgesetzten hat der Regen nicht aufgehört, immer neue Wassermassen sind in den vollen See geströmt. Auch in den See abgehende Muren erhöhen den Druck auf die Staumauer. Die Verantwortlichen geben dem Schleusenwärter per Funk die Anweisung, die Schleusen zu öffnen. Aus Angst, die Überlaufschleuse könnte durch das Gewicht des abfließenden Wassers blockiert werden, erteilen sie ihrem Untergebenen den Befehl zur Öffnung der Grundschleusen.
Spada gehorcht und öffnet die Schleusen. Er hat keine Möglichkeit, die Marteller über die drohende Gefahr zu informieren: Er ist allein. Die Telefonverbindung ins Dorf ist unterbrochen. Die Zeit drängt. Ein Übergehen des Sees scheint möglich. Er öffnet also die Schleusen, die Messgeräte immer im Blick. Ihre Anzeige liefert den einzigen Hinweis, wie und wie lange die Schleusen geöffnet sein müssen. Wassermassen schießen nun aus dem Stausee.
Von der drohenden Gefahr weiß unten im Dorf niemand. Bürgermeister Altstätter erkennt sie als einer der ersten. Er ist wieder zum Beobachtungsposten an der Plima gefahren, wo ihn ein Feuerwehrmann mit der Schreckensmeldung erwartet: „Mir derhebn’s nimmer. Mir miassn schaugn, dass die Leit meiglichst schnell gian!“ Ein Blick auf die Plima genügt, um zu verstehen. Der Bach ist gewaltig angestiegen. Große Felsen und entwurzelte Bäume werden von den Wasser- und Schlammmassen unter Getöse mitgerissen. Nur noch Minuten bleiben bis die Plima das Dorf Gand überschwemmen wird.
Feuerwehr und Bergrettung evakuieren in kürzester Zeit die Bewohner aller bedrohten Häuser. Gerade noch rechtzeitig: Die Plima tritt über die Ufer und
beginnt ihr zerstörerisches Werk. Was sie alles anrichtet, können die Marteller wegen der beginnenden Dunkelheit nur vage erkennen. Aber sie können die vernichtende Kraft des Wassers hören und riechen: Ein beißender Geruch nach Schwefel liegt in der Luft.
Talauswärts ahnt die Bevölkerung nichts von der sich rasch nähernden Gefahr. Ohne Vorwarnung schwillt das Wasser der Plima zunächst bei Morter an. Die Feuerwehr des Ortes, die bis dahin vor allem den Bronta-Bach überwacht hat, muss nun von einem Moment auf den anderen ihr Dorf vor der wild gewordenen Plima schützen.
Auch in Latsch sind an diesem Tag Feuerwehrmänner auf den Beinen. Gegen 22.00 Uhr bemerken einige von ihnen beim Kontrollgang an der Plima, dass der Bach beängstigend ansteigt: Die erste Flutwelle aus Wasser und mitgerissenem Material hat die Talsohle erreicht und ergießt sich schließlich in die Etsch. Diese kann die zusätzlichen Wassermassen nicht fassen und tritt auf einer Länge von 100 Metern über das Ufer. Unverzüglich wird Alarm gegeben und die Evakuierung der gefährdeten Wohnsiedlung Au am Etschufer eingeleitet. Mit den Sirenen der Einsatzfahrzeuge wird die Bevölkerung alarmiert. Die meisten der Bewohner können der Aufforderung der Feuerwehr zur Flucht selbst folgen. Zu Fuß oder im eigenen Auto retten sie sich vor der rasch ansteigenden Flut. Wer nicht rechtzeitig flüchtet, muss in den oberen Stockwerken auf Hilfe warten. Mit Baggern werden die letzten Gefährdeten in Sicherheit gebracht. Um 22.20 Uhr steht das gesamte Gebiet der Siedlung bis zu eineinhalb Meter unter Wasser.
Die Plima wird in dieser Nacht für einen weiteren Latscher Ortsteil zum Alptraum: Oberhalb der Industriezone bricht sie an beiden Ufern aus. Auf der rechten Seite überschwemmt und vermurt sie große Teile der Industriezone. Schlamm dringt in die dortigen Betriebe ein. Maschinen und Arbeitsmaterial werden zerstört. Auf der linken Seite des Baches wird die Staatsstraße überschwemmt, die Bahnlinie der Staatsbahn unterspült und die Umfahrungsstraße von Latsch auf einer Länge von 100 Metern weggespühlt.
Giovanni Spada erlebt inzwischen schreckliche Momente. Seit er die Schleusen geöffnet hat, ist er von ohrenbetäubendem Lärm umgeben. Von seinem Arbeitsraum führt ein Luftschacht zur Schleuse. Der Sog des ausströmenden Wassers lässt die Fensterscheiben bersten, reißt die Tür auf, wirft eine im Freien abgestellte Vespa um und zwingt den Wärter sich anzubinden. Spada muss alten Armaturen vertrauen, die jahrelang Feuchtigkeit ausgesetzt waren. Er muss darauf vertrauen, dass sie im heftigen Luftsog anzeigen, wie viel Wasser er ablassen kann. Die Messgeräte aber liefern falsche Daten. Viel mehr Wasser als angezeigt, donnert aus dem Stausee. Als Spada schließlich darauf aufmerksam wird, versucht er, die Schleusen zu schließen. Doch fehlt Strom für den elektrischen Motor der Schleuse, das Notstromaggregat versagt. Alleine kann er die Mechanik nicht bewegen. Männer aus einem weit entfernten Gasthaus helfen ihm schließlich. Wertvolle Zeit vergeht.
Die Verwüstungen in dieser Bartholomäusnacht werden am nächsten Morgen sichtbar. Unter Schock begutachten die Menschen die Schäden: fassungslos, verzweifelt und wütend. Angesichts der Schäden scheint es fast ein Wunder, dass niemand in dieser Nacht ums Leben gekommen ist.
Mit dem Wiederaufbau wird in den betroffenen Zonen rasch begonnen. Bagger und Baugeräte prägen jahrelang das Gebiet. Rasch, unbürokratisch und umfassend wird wiederaufgebaut. Nicht alle erhalten, was sie sich erwarten, aber die meisten. Der Wiederaufbau eröffnet den Betroffenen zudem Wege und Mittel zur Modernisierung. Die Erinnerung an die Katastrophe aber bleibt.
Giovanni Spada trägt keine Schuld am Unglück. Er hat gemäß Vorschriften und Anweisungen gehandelt. Die Schuldfrage wird nie geklärt. In einem jahrelangen Rechtsstreit weist die Betreibergesellschaft jegliche Verantwortung von sich. Dennoch scheint klar: Die Katastrophe in Martell wird durch Profitgier und mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen ausgelöst. Unglückliche Umstände haben ihren Verlauf verschlimmert.
Die meisten Forderungen der Marteller zur Erhöhung der Sicherheit am Staudamm werden im Lauf der folgenden Jahre schrittweise erfüllt. Der Staudamm ist heute sicherer als vor 25 Jahren.