Die Gemeindepräsidentin Val Müstair: „Die Abwanderung ist ein latentes Thema“

geschrieben von
Gabriella Binkert Becchetti  ist die erste Frau, die im Val Müstair in das Amt des Gemeindepräsidenten gewählt wurde. Gabriella Binkert Becchetti ist die erste Frau, die im Val Müstair in das Amt des Gemeindepräsidenten gewählt wurde.

Politische Erfahrungen hat Gabriella Binkert Becchetti während vier Jahren als Kreispräsidentin (Richterin 1. Instanz), als langjährige Gemeinderätin sowie als Mitglied des Kantonalvorstandes und jetzt als Nationalratskandidatin der SVP Graubünden (Schweizerische Volkspartei) gesammelt. Sie verfügt über ein sehr gutes, breites Netzwerk und ist auch in Bundesbern keine unbekannte Größe.

Vinschgerwind: Gabriella, du bist nun bereits im dritten Amtsjahr als Gemeindepräsidentin. Dein Fazit?
Gabriella Binkert Becchetti: Die Arbeit für die Öffentlichkeit ist mit viel Freude verbunden. Das Netzwerk außerhalb des Tales wirkt unterstützend für unsere Anliegen. Gemeinsam mit den motivierten Mitarbeitern der Gemeinde konnten wir einige Projekte operativ erfolgreich umsetzen. Der strategisch tätige Gemeindevorstand muss sich den Herausforderungen einer kleinen Berggemeinde stellen, was in wechselhaften Zeiten nicht immer einfach ist. Die Highlights waren sicher die Besuche des Bundespräsidenten Guy Parmelin und des Bischofs Bonnemain von Chur und im darauffolgenden Jahr des gesamten Bundesrats. Diese Besuche waren für unser kleines Tal eine grosse Ehre und ich bin gerne nach Bern gereist, um sie in die Wege zu leiten. Anlässlich dieser Besuche konnten wir unsere Anliegen darlegen und werden sogar ab und zu gehört!

Vinschgerwind: Nebst allen anderen kleinen und grossen Geschäften beschäftigen dich momentan welche Projekte am meisten?
Gabriella Binkert Becchetti: Den Pflichten des Lehrplans 21 nachzukommen, beschäftigt uns seit rund vier Jahren. Gemeinsam mit dem Schulrat, den Schulleitern und dem Gemeinderat sind wir dabei, den Schulstandort Müstair im Detail zu prüfen, ein Raumprogramm zu erstellen, um danach die Ausschreibung für den Umbau an die Hand nehmen zu können. Es ist unser Ziel, Ende Jahr bei der Budget Vergabe 2024 der Bevölkerung ein gutes Projekt zum Wohle unserer Schulkinder zur Gutheißung vorlegen zu können.
Auch die Abwanderung ist für mich immer ein latentes Thema. Wir konnten die Einwohnerzahl im Jahre 2022 mit einem leichten Zuwachs stabil halten, aber die Statistik des Kantons Graubünden zeigt, dass unser Tal einer rasanten Abwanderung entgegen geht. Das ist sehr beunruhigend, denn die Infrastrukturen wie Spital, Schulen sowie Gemeindegebäude müssen weiterhin unterhalten werden. Das gesellschaftliche Leben ist auf weite Sicht gefährdet. Hier habe ich leider noch kein Rezept gefunden. Alle sprechen von Baulandmangel, Wohnungsmangel – wir haben seitens Gemeinde rund 7000 m2 an Bauland anzubieten, die Privaten nicht eingerechnet. Vielleicht wird in einigen Jahren die Situation so sein, dass Menschen hier wohnen und in Südtirol arbeiten? Der akute Arbeitskräftemangel wird uns auch nicht darüber hinweghelfen – hier ist wirklich guter Rat teuer.
Weiter ist die Aufrechterhaltung der Grenzwache für unsere Grenzregion von grosser Bedeutung. Zum einen sind das immer Familien, welche hier wohnen und in die Gesellschaft integriert sind, zum andern geht es um unsere Sicherheit. Gerade in Zeiten außergewöhnlich starker Migration ist ein Grenzschutz unabdingbar. Diesbezügliche Gespräche werden im Sommer stattfinden. Das war eines der sieben Anliegen, welche ich beim Bundesratsbesuch anbringen konnte. Wir werden sehen, welche Lösung man uns mitteilen wird.

Vinschgerwind: Die Umfahrung Sta. Maria ist immer noch hängig. Wie ist da der Stand der Dinge?
Gabriella Binkert Becchetti: Seit fast 30 Jahren eine „unendliche Geschichte“. In rund 1 ½ Jahren hat eine Begleitgruppe des Kantons Graubünden mit Fachexperten mehrere Varianten geprüft und schlussendlich zwei gute Vorschläge der eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission sowie der Denkmalpflege vorgelegt. Beide haben sich in einem Gutachten negativ geäußert. Die Vorschläge dieser Kommissionen können weder die Gemeinde noch der Kanton in dieser Form akzeptieren. Dank meiner guten Vernetzung werden wir nach gut schweizerischer Art das Gespräch suchen, um gemeinsam eine Lösung für unser vom Verkehr geplagtes Dorf zu finden. Wir können mit der Unterstützung des Kantons rechnen, welcher ja der eigentliche Bauherr ist. Gemeinsam werden wir alles daransetzen, um schlussendlich zu einem positiven Ergebnis zu gelangen. Es kann nicht sein, dass alte Mauern, welche ich als Baukultur sehr schätze, höher gewichtet werden als eine gute Lebens- und Wohnqualität und nicht zuletzt die Sicherheit der Bewohner von Sta. Maria.

Vinschgerwind: Die Zubringerbahn ins Skigebiet Minschuns und das Ferienresort LA SASSA in Tschierv sind schon länger in der Pipeline. Besteht Hoffnung, dass eine Umsetzung in absehbarer Zeit erfolgt?
Gabriella Binkert Becchetti: Die touristischen Projekte Resort La Sassa und Skigebiet Minschuns stehen ganz oben auf meiner Liste, da sie für die wirtschaftliche Zukunft, Arbeitsplätze und ein sanftes Wachstum, enorm wichtig sind. Die Abklärungen sind weit fortgeschritten und eigentlich könnten die Bewilligungen erteilt werden, wäre da nicht ein Rekurs seitens der Umweltschutzorganisationen, den wir vor Gericht bis auf Weiteres sistiert haben. Dies, weil wir zuerst alle „Wenn und Aber“ abgeklärt haben wollen. Man könnte jetzt das Ziel avisieren. Wir würden auch gerne der Natur etwas zurückgeben, wie z.B. der Rückbau das Kieswerks beim Ofenpass. Da sich die Organisationen nicht zu einer Einigung durchringen und immer wieder einen Verzögerungsgrund finden, wird das Ganze wohl von einem Gericht entschieden werden. Schade, dass der Volkswille einmal mehr nicht respektiert wird.

Vinschgerwind: Du warst damals ein massgebendes Mitglied der operativen Projektleitung und danach die erste Geschäftsleiterin der Biosfera Val Müstair. Inzwischen wurde das Biosphärenreservat ins Unterengadin erweitert und das Val Müstair zum Naturpark von nationaler Bedeutung erhoben. Wie beurteilst du das durch dieses Label Erreichte und siehst du noch Potenzial für das Tal?
Gabriella Binkert Becchetti: Ich bin nach wie vor überzeugt, dass dies der richtige Weg ist. Wir dürfen in einer einmaligen Natur- und Kulturlandschaft leben und arbeiten. Diese ist seit Generationen von der traditionellen Landwirtschaft geprägt, denn heute bewirtschaften rund 90% das Land biologisch sowie 10% IP. Wir haben sehr gute Prämissen, jetzt diese Errungenschaften umzusetzen und marktwirtschaftlich zu handeln. Hierfür haben wir hervorragende einheimische Produkte, eine gut funktionierende Forstwirtschaft, ein solides Gewerbe, internationale Industrie und sehr gute Handwerker, perfekte Gastgeber mit einer innovativen Hotellerie sowie einige kleine, feine Betriebe, welche unser Angebot vollenden. Unser Tal hat in der Vergangenheit sehr viel für die Natur getan. Dieses Kapital gilt es zu nutzen, denn nur mit „grün“ können wir unsere Bevölkerung und vor allem die junge Generation nicht hier behalten. Es muss ein gesundes Verhältnis zwischen Ökonomie und somit Wachstum sowie Ökologie und somit Bewahren stattfinden dürfen. Wir sind das einzige Tal in der ganzen Schweiz, welches gleich mit zwei UNESCO Labels aufwarten kann. Also nutzen wir doch diese Potenziale für unsere Angebote innerhalb sowie außerhalb des Tales. Wir müssen uns öffnen, wir leben im Dreiländereck, gemeinsam mit der Region können wir viel erreichen. Die Biosfera – und da meine ich den Naturpark sowie das UNESCO Biosphärenreservat – haben sicher noch viel Potential vor sich. Die neue Programmperiode des Naturparks beginnt 2025 – 2028 und hier sind nun auch vor allem die Wirtschaftskreise gefragt, sich aktiv mit guten Projekten einzubringen. Man darf nicht vergessen, dass Bund, Kanton sowie die Gemeinde heute jedes Jahr rund 1, 3 Mio. für Projekte freigibt. Also nutzen wir doch diese Geldquelle für Projekte, welche die junge Generation mit guten Arbeitsplätzen zum Zurückkehren bewegt aber auch die Hiesigen weiterhin zum Hierbleiben animiert. Ein Ansporn für wirtschaftliche Projekte in den Bereichen Energie, Tourismus, Produkte aller Sparten aber auch in der Forschung von Mensch und Tier geben, die Liste ist nicht als abschließend zu lesen. Dank der Finanzierung können die Projekte auch umgesetzt werden. Ein Miteinander kann einen großen Schub bewirken und ich hoffe, dass mit neuen Ideen das Tal einen solchen Input erhalten wird. Dafür braucht es alle gemeinsam mit im Boot. Schön wäre natürlich, wenn wir das UNESCO Biosphärenreservat ins Südtirol erweitern könnten, ganz nach dem Motto: Grenzüberschreitende Terra Raetica in Form von UNESCO! Denn: „Die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen.“ (Antoine de Saint-Exupery)

Vinschgerwind: Grazcha fich, vielen Dank Gabriella, dass du dir die Zeit genommen hast für dieses interessante Gespräch. Ich wünsche dir weiterhin viel Freude und Erfolg bei deiner anspruchsvollen Aufgabe.

Interview: Annelise Albertin

Gelesen 2419 mal
Mehr in dieser Kategorie: « 25 Jahre offene Grenze

Schreibe einen Kommentar

Make sure you enter all the required information, indicated by an asterisk (*). HTML code is not allowed.

Ausgaben zum Blättern

titel 3-25

titel Vinschgerwind 2-25

titel vinschgerwind 1-25

 winterwind 2024

WINDMAGAZINE

  • Warm und trotzdem atmungsaktiv. Funktionsbekleidung ermöglicht es uns, selbst bei klirrenden Temperaturen den Schnee und die traumhafte Winterlandschaft zu genießen, ohne ins Frösteln zu kommen. Baumwolle, Fleece oder Daunen? Was…
    weiterlesen...
  • Die tierischen Protagonisten aus der Weihnachtsgeschichte an den Futterkrippen anzutreffen, war einigermaßen überraschend. Weniger unerwartet war, dass ihre Landwirte auch im Winter tüchtig sind. Ein bisschen Zeit für die Ofenbank…
    weiterlesen...
  • Der junge Vinschger Martin Fahrner ist seit 2018 Chef der World Racing  Academy WRA. In der Skisaison 2024/2025 ist er mit 12 Athleten im  internationalen Skizirkus unterwegs. Sein Vater Hans…
    weiterlesen...
  • Promenaden verfügen standesgemäß über besondere Flanierqualitäten, bieten interessante Blickbeziehungen und dienen in der Regel dem Lustwandeln.  Der fünf Kilometer lange Rundweg um den Haider See im Vinschger Oberland vereinigt diese…
    weiterlesen...
  • Ein paar winterliche Überlebensstrategien von Alpentieren und -pflanzen stelle in diesem Beitrag vor. Vereinfacht und in einer systematisierenden Übersicht kann man aktive und passive Überwinterer unterscheiden. Von Wolfgang Platter, dem…
    weiterlesen...
  • Un racconto per immagini di Gianni Bodini   La Val Venosta offre agli amanti degli sport invernali diversi centri ben attrezzati, ma anche per chi si “accontenta” della natura non…
    weiterlesen...
  • Die magische Geschichte der „VALANGA AZZURRA“ („blaue Lawine“),  dem damals erfolgreichsten Ski-Team der Welt rund um Gustav Thöni wurde  verfilmt. Vorgestellt wurde der Kino-Film jüngst am Filmfestival in Rom. von…
    weiterlesen...
  • Unvergessliche Pistenerlebnisse Atemberaubendes Panorama und 44 bestens präparierte Pistenkilometer: In Sulden sind Wintersportträume Wirklichkeit.   Das Skigebiet in Sulden ist kein Geheimtipp, Sulden ist höchstes Niveau, Sulden ist „First Class“:…
    weiterlesen...
  • Schließen Sie die Augen und träumen Sie vom perfekten Winterurlaub mit der Familie … Text: Stephan GanderFotos: Lucas Pitsch / Sebastian Stip In Trafoi, mitten im Nationalpark Stilfserjoch erlebt man…
    weiterlesen...
  • Eine Oase der Ruhe, ein Ziel für Wanderungen, ein beliebter Treffpunkt für Genießer, auch zum Feiern, Ausgangspunkt für Skitouren, eingebettet in einer wunderbaren Bergkulisse: das ist die Berghütte Maseben. Die…
    weiterlesen...
  • Wusstest du, dass die Nährstoffe in Äpfeln die gesundheitliche Wirkung von anderen Lebensmitteln verstärken? VIP hat spezielle Kombinationen mit Vinschger Apfelsorten entwickelt, die überraschend gut schmecken und die Gesundheit fördern.…
    weiterlesen...
  • Die Tage werden kürzer, die Luft frischer, und die Landschaft erstrahlt in reinem Weiß – der Winter in der Ferienregion Reschensee ist da! Eingebettet im malerischen DreiländereckItalien-Österreich-Schweiz erwartet euch ein…
    weiterlesen...
  • Wo die heimischen Alpen in ein winterliches Wunderland verwandelt werden! Dieses Gebiet bietet nicht nur erstklassige Skimöglichkeiten, sondern ist auch ein Ort, der Tradition und Gemeinschaft inmitten der atemberaubenden Natur…
    weiterlesen...
  • Latsch-Martelltal Zwischen kristallklaren Bergseen, dem ursprünglichen Martelltal, dem kargen Sonnenberg und dem sattgrünen Nörderberg liegt das Feriengebiet Latsch-Martell - unterschiedlicher könnte es nicht sein. Als wahres Skitouren Eldorado ist das…
    weiterlesen...

Winterwind 2024

zum Blättern

Winter Magazin - Winterwind 2024 - Bezirk Vinschgau Südtirol - Skigebiete Skifahren Rodeln Langlaufen Winterwandern Schneeschuhwandern Eislaufen Schöneben Haideralm Sulden Trafoi Watles Ferienregion

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.