Vinschgau - „MeWo - Mehr als Wohnen Vinschgau“ - mit diesem Projekttitel starten die Sozialdienste in der Bezirksgemeinschaft Vinschgau ein ESF-Projekt. Der Titel ist ein Euphemismus - denn es geht um Wohnungssuche für und um Begleitung von Schutzbedürftigen - von Flüchtlingen, Migrant:innen, von Obdachlosen und von „Arbeitssklaven“.
von Erwin Bernhart
Rund 150 Leute suchen im Vinschgau eine Wohnung. Pro Woche wenden sich im Schnitt zwei Obdachlose oder Wohnungssuchende hilfesuchend an die Sozialdienste im Vinschgau. Der soziale Hintergrund der Wohnungssuchenden ist unterschiedlich: Flüchtlinge, vor allem Familien und Einzelpersonen, die die bisherigen Unterkünfte des staatlich unterstützen CAS verlassen müssen. Oder ukrainische Flüchtlinge - Frauen, auch mit Kindern. Einheimische Obdachlose oder - und das ist ein neues Phänomen, Leute, die eine befristete und damit prekäre Anstellung in Vinschger Industriebetrieben vorweisen können und auf Wohnungssuche sind.
Die Gemengelage auf dem winzigen Wohnungsmarkt im Vinschgau ist vor allem eine soziale Frage. Denn betroffen sind Menschen, die kulturell und sprachlich entwurzelt und in einer ökonomisch prekärsten Situation sind.
Wären da nicht beherzte Vinschger:innen, die den Flüchtlingen und den Migrant:innen mit Nachbarschaftshilfe den einen oder anderen Dienst erweisen, die Situation wäre wohl noch viel dramatischer.
Die Dramatik der Wohnungsnot und auch die Schwierigkeiten in der Bewegungsfreiheit, die für Einheimische selbstverständlich sind - etwa ein Arztbesuch, ein Einkauf, ein Besorgen von Medikamenten und vieles mehr - machen die Sozialdienste Vinschgau nun sichtbar.
Alarmiert
Die Sozialdienste sind alarmiert. Die gehäuften Anfragen nach Hilfe und Wohnung haben dazu geführt, dass die Überlegungen gereift sind, die Dienste, die Betreuung, die Hilfestellungen bündeln zu wollen. Die Dienste professioneller anbieten zu können. Dass dies ohne finanzielle Absicherung nicht zu stemmen ist, ist selbstredend.
Die Sozialdienste in der Bezirksgemeinschaft Vinschgau unter der Direktorin Karin Tschurtschenthaler haben ein Projekt entwickelt und beim Europäischen Sozialfonds (ESF) um Finanzierung angesucht. Für das Durchkämpfen durch den bürokratischen Dschungel hat man sich Hilfe bei der in ESF-Fragen erfahrenen Genossenschaft GRW - Genossenschaft für Regionalentwicklung und Weiterbildung Sarntal - bei Josef Günther Mair geholt.
Im Rahmen einer Pressekonferenz wurde das Projekt kürzlich in der Bezirksgemeinschaft Vinschgau vorgestellt. Projektleiterin ist Barbara Wopfner. Mit im Boot ist die Caritas Südtirol, vertreten von Leonhard Voltmer und das Monitoring des Projektes „MeWo“ übernimmt Johanna Mitterhofer von der EURAC.
Das Projekt „Mehr als Wohnen Vinschgau“ hat in der ESF-Bewertung sehr gut abgeschnitten und ist im Ranking der in Südtirol eingereichten ESF-Projekte auf dem 2. Platz. Das zeigt, dass die Ideen, die Zielsetzungen und die fachlichen Begleitungen gut ausgearbeitet und stimmig sind. So etwas wie Vorschusslorbeeren vom Europäischen Sozialfonds.
Mit 440.000 Euro und für ein Jahr ist das Projekt genehmigt und man ist gestartet.
Die Projektträger sprechen von einer „innovativen Sozialarbeit“.
Barbara Wopfner sagt, dass es darum gehe, Fragen wie „Wie suche ich eine Wohnung“, „Wie führe ich einen Haushalt“, „Was muss ich bei einer Mietwohnung berücksichtigen“, „Wie ist das Verhalten in einem Kondominium“ und viele, viele Fragen mehr zu beantworten. Der Hauptbereich werde also im Sprachenerwerb, im Beratungsdienst und im Begleitdienst liegen, Begleitung und Beratung bei Fragen um die Schule, um die Gesundheitsversorgung, um Sprachübersetzungen bei Ämtern. Angeboten werden auch Rechtsberatungen, psychologische Betreuung, sprachliche Weiterbildungen, Haushaltskurse. Hinzu kommen Arbeitssicherheitskurse, Arbeitstechnik, um Leute in die Lage versetzen zu können, auch eine entsprechende Arbeit annehmen zu können. Letzteres gilt vor allem auch für Flüchtlinge aus der Ukraine. Hilfestellungen beim Schreiben von Lebensläufen, Vorbereitungen auf Vorstellungsgespräche, Wohnungssuche, das Hinweisen auf die Eigenarten der lokalen Kultur, Rechte und Pflichten... Es geht um soziale Integration auf der einen und um Arbeitsintegration auf der anderen Seite. Und es geht um das Grundrecht auf Wohnen.
Herkulesaufgabe
Eine Herkulesaufgabe. Vor allem vor dem Hintergrund, dass sich eine Wohnungssuche als äußerst schwierig gestaltet. Das ist den Projektbetreibern durchaus bewusst und entsprechende Erfahrungen liegen längst vor. „Die Scheu der Wohnungsbesitzer ist groß, eine Wohnung an Leute mit fremder Hautfarbe, mit fremder Sprache, mit fremder Kultur zu vermieten“, sagt Karin Tschurtschenthaler. Auch schlechte Erfahrungen spielen eine Rolle. Dies werde respektiert und da sei es gut, wenn öffentliche Einrichtungen mitbegleiten. Vorgesehen ist, dass mit der Betreuung der Klienten, also der Hilfe- und Wohnungssuchenden, gleichzeitig eine Betreuung der Wohnungsbesitzer einhergeht. Die Wohnungsvermieter werden also nicht allein gelassen. Das dürfte ein entscheidender Punkt sein. „Es ist ein Glücksmoment, wenn private Wohnungsbesitzer einen Mietvertrag mit Schutzbedürftigen machen“, sagt Wopfner.
Wenn etwa die Anmietung einer Wohnung von der Caritas getätigt wird, wenn dies der betreffende Mieter aus verschiedenen Gründen nicht schafft, könnte die Hemmschwelle von Seiten der Wohnungsbesitzer überwunden werden. Auch ein solches Modell ist vorstellbar, sogar schon in Einzelfällen verwirklicht.
„Wir bringen viel Erfahrung in diesem Bereich mit“, sagt Leonhard Voltmer von der Caritas. Mit einer starken Finanzierung, wie es dieses ESF-Projekt sei, und mit der Zusammenarbeit mit Privaten sei dies eine innovative Sozialarbeit. „Wir haben direkten Kontakt mit allen Akteuren, vor allem mit den schutzbedürftigen Personen.“ Gut sei das Monitoring, das Begleiten von der Eurac.
Johanna Mitterhofer von der Eurac sagt, dass in Gesprächen mit allen Akteuren gezeigt werden könne, was gut funktioniere und dass man bei Bedarf die Zielsetzungen anpassen könne. Man werde Indikatoren entwickeln, um Erfolge der einzelnen Schritte messen zu können.
Tatsächlich muss jeder Schritt, jede Beratung, jeder Ämtergang mit Klienten genauestens dokumentiert werden. Das sagt Josef Günther Mair vom GRW Sarntal. Die Genossenschaft für Regionalentwicklung und Weiterbildung (ähnlich dem GWR in Spondinig), ist seit 2017 ESF akkreditiert und hat seither viel Erfahrung im Dickicht des ESF sammeln können. Mut, Risiko, Courage und Kompetenz gehören dazu, ein solches Projekt anzugehen, sagt Mair. Mit Beratungstätigkeiten, dem Organisieren von Dozenten und Orientierung gebend begleitet Mair das Vinschger Projekt. Man wolle damit ein stückweit raus aus dem Ehrenamt, die Beratungen materiell honorieren. Als Regionalentwickler sei es seine Aufgabe, mögliche EU-Gelder zu aktivieren.
Innovative Sozialarbeit
Für die 440.000 Euro wolle man 5 Vollzeitäquivalente schaffen und punktuell Mitarbeiter:innen mit Honorarnoten bezahlen. Eine Weiterührung des Projektes ist nicht ausgeschlossen. „Wir haben motivierte Mitarbeiter:innen“, sagt Karin Tschurtschenthaler. Man wolle die Problematik professionell angehen und damit auch öffentlich machen.
Denn an Wohnungen mangelt es im Vinschgau eigentlich nicht. In jeder Gemeinde gibt es ein Register, in dem alle konventionierten Wohnungen aufscheinen. Dieses Register ist jedes halbe Jahr von den Gemeinden zu aktualisieren. In diesem Register ist genau bezeichnet, welche Wohnungen besetzt sind und welche Wohnungen frei sind.
Allerdings sind diese konventionierten Wohnungen großteils weder für Einheimische und schon gar nicht für Schutz suchende Flüchtlinge zugänglich. Auch Wohnungen des Wohnbauinstitutes sind wegen der Ansässigkeitsklausel von 5 Jahren für Migranten kaum zugänglich. Ein Dilemma.
Ein neues Phänomen hält Einzug. Auch im Vinschgau. Und dieses bekommen die Sozialdienste bei Anfragen von Wohnungssuchenden unmittelbar mit. Es sind Arbeitsmigranten, aus dem italienischen Raum und darüber hinaus, die oftmals von Leihfirmen an die im Tal ansässigen Industriebetriebe vermittelt werden. Viele Betriebe suchen händeringend nach Arbeitskräften und kaufen diese am Arbeitsmarkt ein. Es werden Arbeitsmigranten in der Früh von Meran in die Betriebe und am Abend wieder retour nach Meran gebracht. „Arbeitskräfte sind willkommen, aber Wohnungen?“ bringt es Karin Tschurtschenthaler auf den Punkt.
Problematik ist allen bewusst
Tatsächlich habe man sich mit den großen Industriebetrieben Hoppe und Recla bereits an einen Tisch gesetzt. Die Problematik ist allen bewusst. Eine Lösung ist nicht in Sicht. In Meran und in Bozen gibt es Arbeiterheime. In Meran, so sagt es Barbara Wopfner, gebe es eine Wartezeit von 18 Monaten. Im Vinschgau gibt es (noch) kein Arbeiterheim. Während die Landwirtschaft per Gesetzt verpflichtet ist, für Zupfer und Klauber Wohnmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, während für die Tourismusbetriebe Ähnliches für ihre Angestellten gilt, gilt das für Industrie und Handwerk nicht. Vorstellbar ist es, dass sich der Arbeitsmarkt in Richtung Arbeitsmigration entwickeln wird. Auch im Vinschgau. Denn in den Ballungszentren Bozen und Meran ist Arbeitsmigration gang und gäbe.
Das Projekt „Mehr als Wohnen im Vinschgau“ macht demnach mehrere Ebenen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt sichtbar und lässt wohl durch einen Spalt in die Zukunft blicken.