„Erzählen wir einander“
Der Zufall
Anita Pichler
Der Anfang ist leicht: Erzählen wir einander. Der Anfang ist wie eine Bitte, wie jede Wurzel, die Rübe, das Herz: Ich setze das erste Wort an den Platz, wo ich stehe. Ich suche einen Tag an diesem Ort und beginne.
Aus: Pichler, S. 35
25 Jahre
ist es her, dass Anita Pichler verstorben ist. Sie war eine Schriftstellerin aus Schenna, hat ihre Kindheit aber auch in Sulden verbracht. Dann hat sie in Triest, Venedig und Prag Sprachen studiert, als Übersetzerin und Redakteurin gearbeitet und zahlreiche Reisen unternommen. Und immer wieder geschrieben – unter Verwendung modernster Erzählmethoden. Dafür erhielt Anita Pichler als eine der ersten Südtiroler:innen internationale Aufmerksamkeit. Die Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1986 und Publikationen bei Suhrkamp zeugen davon. Im männerdominierten Südtiroler Literaturbetrieb hat sie Pionierinnenarbeit geleistet. Dazu gehörte in den späten 80er Jahren die Entscheidung, als freie Schriftstellerin zu leben, „aber nur, wenn mir das erlaubt, so zu schreiben, wie ich schreibe.“ Das Wie ist ein rhythmischer Ton, der die bilderreiche Sprache der schnellen Handlung vorzieht. Ihre tiefgehenden Texte speisen sich aus Mythologie, Geschichte und einer sensiblen Beobachtungsgabe. Andeutende, aber dringliche Prosa für ein intensives Leseerlebnis. Im Handel sind alle ihre Werke erhältlich, auch dank der eifrigen Nachlassverwalterinnen Sabine Gruber und Renate Mumelter. „Haga Zussa“ (Die Zaunreiterin), „Wie die Monate das Jahr“, „Die Frauen aus Fanis“, und „Beider Augen Blick“ sind zu Pichlers Lebzeiten erschienen. 49-jährig erlag sie am 6. April 1997 einer Krebserkrankung.
„Es wird nie mehr Vogelbeersommer sein …“ (dazu eine CD mit Pichler im O-Ton!) und „Flatterlicht“ versammeln posthum unveröffentlichte Prosaminiaturen, Gedichte und Fotos. Anita Pichler wurde auf eigenem Wunsch in Sulden begraben. Von den Bergen hatte sie sich angezogen gefühlt und bei ihrer älterer Schwester Renate war sie gern gewesen, welche eine Residence in Sulden betreibt. „Sulden war für sie Heimat“, heißt es im soeben erschienenen Film von Lorenz Zenleser. Das zweite filmische Porträt nach „ich will einfach erzählen …“ (Eisenstecken/Oberkofler, 2002). Und doch ist wenig bekannt über die Dichterin. „Das Private bleibt gedacht und unter uns. Das Öffentliche hast Du selbst veröffentlicht, Dich niemals dazu“, gedenkt ihr Sabine Gruber in der Neuen Südtiroler Tageszeitung vom 8.4.1997. Und lässt sie dadurch wirken, worin sie sein wollte: im Wort.
Requiem auf Anita Pichler
Robert Schindel
1
Im Schatten des Ortlers
Im Ort Sulden
Tief im Faltwerk hat
Anita ihre letzte Adresse
5
Im Schatten des Berges
Im Ort Nimmermehr
Tief im Wortwerk hat
Anita ihre Adresse.
Aus: Gruber/Mumelter, S. 116
75 Jahre
wäre norbert conrad kaser heuer am 19. April geworden. Er ist einige Monate vor Anita Pichler geboren, die beiden verbindet die Erstpublikation von Lyrik in der Zeitschrift „die brücke“ von Alexander Langer (Nr. 12/1968). Zuvor hat sich kaser, der konsequente Kleinschreiber, im Vinschgau aufgehalten. „Mein Barometer steht auf schön“ schrieb der Pusterer Dichter in einem Brief aus Laas. Dort war er als 19-Jähriger für ein Jahr Aushilfslehrer in der Mittelschule und wohnte mit anderen Lehrpersonen bei Olinda Stieger. Dorf und Leute gefielen ihm, die in Laas angefertigte Lyriksammlung „probegaenge“ gehört zu seinen frühen literarischen Versuchen. kaser, erst nach seinem Tod anerkannt in Südtirol, war ein genialer Sturschädel. Davon erzählen Schulkollegen aus dem Pustertal, aber auch Lehrerkollegen aus dem Vinschgau. Er liebte das Gesellige und den Wein, klapperte die Laaser Gasthäuser ab, musste dann aber auch wieder für sich sein. So wie er gefühlsmäßig explodieren und laut poltern konnte, war er aber auch im Stande, Inneres in Verszeilen zu verknappen und die Dinge beherzt auf den Punkt zu bringen. Das Laaser Jahr dürfte zu seinen guten Zeiten zählen, in einem Brief schwärmte er von den „prächtigen“ Kollegen, dem „familiären Verein“ Schule und dass das Kollegium zusammenhält „wie die alten Schuhe.“ Lob gab es für den Direktor und die „Gitschen“, auch wenn einige „stinkfaul“ und einige „freche Wanzen“ gewesen seien. Seine Zuneigung für die Lehrerkollegin Marijke Zingerle zeigte er in einem Gedicht, das er ihr aus dem Stegreif ins Tagebuch schrieb. „Laas für Marijke“ – es ist nicht der Wirtin Maridl Stieger gewidmet, wie oft vermutet wird. Ihr hat er aber eine Ausgabe von „probegaenge“ geschenkt, darin enthalten ist auch das Gedicht „marmor“, „den laasern“ zugeeignet. Die Schüler:innen mochten kaser wegen des lockeren Unterrichtsstils und beschreiben ihn rückblickend als „tollen Lehrer“. Ein interessanter Kerl ist er wohl auch gewesen: kahlgeschorener Kopf, in der Pause tobte er mit dem Ball, eine Klasse begleitete er auf Ausflug. In der kalten Etsch soll er ein Bad genommen haben. 1967 hat er auf dem Tschenglser Rohnenkirchtag gefeiert. Zu einigen Schülerinnen hielt er Briefkontakt. Überrascht verfolgten sie den Weg des Herrn Lehrers: Die nächste Etappe war der Eintritt in das Brunecker Kapuzinerkloster. Rastlos wie er war, blieb er nicht lange dort. Was dann kam, ist bekannt. kaser erschütterte mit der „brixner rede“ den rückständigen Kulturbetrieb, wies alles Volkstümelnde von sich und zog nach Wien. 2003 hat mir Christian Alton, ein Meraner Kulturmensch, von der gemeinsamen Zeit berichtet: „Einmal habe ich den norbert getroffen, er ist da gestanden und hat an die Mauer gepinkelt. Genau das war seine Haltung: Die Welt ist nicht anprunzenswert.“ kaser provozierte und produzierte am laufenden Band. Was dabei herausgekommen ist, ist beachtlich. Teilweise zweisprachig, oft dialektal angehaucht, mal schroff, mal spielerisch, mal zart, mal zornig. Von der Wissenschaft untersucht, mit Gesamtwerk und zahlreichen Anthologien bedacht. Sein Kinderzimmer zieht jetzt auf Schloss Bruneck ein und kann besichtigt werden. Seine Gedanken können es auch – in drei Textbänden. n. c. kaser wurde nie 75, er ist schon 1978 im Alter von 31 Jahren an seiner Alkoholsucht verstorben.
Maria Raffeiner
Sonta Sina
n. c. kaser
noch waren die leiten nicht nackt
kaum waren die heiden getauft
tausend jahre sind weit
an die stelle irgendeines opfersteines
kam das neue christenheiligtum
viel zu viel geschah in den zeiten
diese kirche beruehrte nichts und keiner
tausend jahre sind weit
der turm ist fuer stuerme gedacht
sicher ruht dahinter das haus
tausend jahre sind weit
die sage laeßt um mitternacht
geister erwachen mag schon sein
tausend jahre sind weit
wie jung sind wir
31. 3. 68
Aus: kaser: gedichte, S. 342
Quellen
Anita Pichler: Beider Augen Blick. Neun Variationen über das Sehen. Innsbruck 1995
Sabine Gruber/Renate Mumelter (Hrsg.): Es wird nie mehr Vogelbeersommer sein … In memoriam Anita Pichler. Wien/Bozen 1998 (daraus stammen auch die beiden Bilder)
norbert c. kaser: gedichte. Innsbruck 1988
norbert c. kaser: briefe. Innsbruck 1991
Martin Hanni: klassentreffen mit n. c. kaser. erinnerungen an n .c. kaser. lehrer in laas 1967/68. Laas 2018 (Bild)