Wenn Maria auf ihre Jugendzeit auf dem Wallnöfhof am Lichtenberger Berg zurückblickt und sich an die Erzählungen ihrer Eltern erinnert, wird eine Familiengeschichte lebendig, die von Schicksalsschlägen geprägt war, aber auch von Lebensfreude und Bereitschaft neuen Lebenslinien zu folgen.
von Magdalena Dietl Sapelza
Den Wallnöfhof hatte Marias Großvater mit dem Geld gekauft, das er auf einer Hühnerfarm in Amerika verdient hatte. Er wurde Vater von fünf Kindern, von denen nur die zwei Mädchen Josefa und Johanna überlebten. Deren drei Geschwister waren kurz hintereinander an Typhus gestorben. Josefa, Marias Mutter, übernahm den Hof. Johanna, ihre spätere Patin, wurde mit einem Jungbauern in Taufers verkuppelt, nachdem sie vermutlich wegen der Todesfälle in ihrer Familie von ihrem Freund verlassen worden war. „Fa dr Konzl in dr Kirch oi hot si drfrog, dass ihr Bräutigam a ondere heiratet“, betont Maria. Ihre „Touta“ habe in Taufers zwar eine gute Partie gemacht, sei aber nie glücklich gewesen und habe an Heimweh gelitten. Johannas Mann, der ebenfalls von einem Hof am Lichtenberger Berg stammt, war als „lediger Bub“ von einem kinderlosen Tauferer Ehepaar adoptiert worden, als Erbe für ihren großen Hof. Doch auch Johanna brachte eine stattliche Aussteuer mit. „Zwölf Kiah hot di Muatr ihr auszohln gmiaßt, teils in Naturalien unt teils in Gelt“, sagt Maria. „Deis hobm si so ausgmocht, obr si hobm olm guat gschoffn“, bekräftigt Maria.
Sie war die Jüngste von Josefas fünf Kindern auf dem Wallnöfhof. Wie ihre Mutter war auch sie mit dem schmerzvollen Verlust zweier Geschwister konfrontiert. Kassian starb im Alter von 10 Jahren im Meraner Krankenhaus an einem Blinddarmdurchbruch und Georg, der den Hof hätte übernehmen sollen, ertrank im letzten Kriegsjahr 1945 als Soldat im Fluss Gurk in Kärnten. Beide Brüder konnten nicht in Lichtenberg begraben werden. „Di Überfiahrung fan Kassian hat 12 Kiah koschtet, unt dr Georg liegt in Kärntn begrobm“, sagt Maria. Den Hof übernahm daraufhin ihr jüngerer Bruder Hubert, der eigentlich hätte Priester werden sollen. Maria und ihre ältere Schwester Hanna halfen ihm tatkräftig. Nach schwerer Arbeit an den steilen Hängen folgten oft fröhliche Stunden. Dazu zählen die Tanzabende, die abwechslungsweise auf den Höfen organisiert wurden. Gar einige Berger Burschen beherrschten das Ziehharmonikaspielen. „I hon olm gmiaßt di Madlen zommtrummlan, unt die Buabm hobm si nor hoambrocht“, schmunzelt Maria. Als unbeschwert erlebte sie auch die Fußmärsche mit Körben voller Eier zur „Touta“ nach Taufers, oft begleitet von der Mutter und den Geschwistern Hanna und Hubert. Diese verkaufte die Eier in Müstair. Mit Schmuggelware wie Saccharin und Zucker in den dafür präparierten Rockfalten kehrte sie wieder über die Grenze zurück. „Miar hobm norr oft a eppas mit hoam gnummen“, erinnert sich Maria. Sie besuchte die Bergschule und die Bürgerschule in Prad. Noch gut erinnert sie sich an Schillers Lied von der Glocke. „Deis konn i heint nou auswendig“ verrät sie. Maria wollte Schneiderin werden, doch sie wurde daheim gebraucht. Einen Winter lang durfte sie bei den Klosterfrauen in Taufers nähen lernen. Dort wohnte sie bei ihrer Tante, wo sie sich wohl fühlte. Noch heute schwärmt sie von deren besonders guten „Brenntsupp“. Eine Nachbarin dort schenkte ihr einmal eine Halskette mit glitzernden Steinen, die sie in ihrer Handtasche hütete. „I hon miar di Kett nit traut ounzlegn, weil si miar zu schean gwesn isch“, verrät sie. Dann wurde ihr die Kette gestohlen, und sie war todunglücklich. „Gscheidr hat i si ounglegg“, ärgert sie sich. Ihre erste Saisonstelle trat Maria in Samedan an. Sie litt fürchterlich an Heimweh. Jede Nacht schaute sie auf den Stern, den sie über dem Lichtenberger Berg vermutete und träumte sich weinend dorthin. Im Gasthof Franzenshöhe und auf der Hintergrathütte hatte sie ihr Heimweh dann im Griff. Doch sie freute sich jedes Mal darauf, wieder heimzukommen. Den Lohn übergab sie den Eltern. Ihren Mann Alois Pinggera, den „Wirtn Luis“ (Jg. 1922) lernte sie in seinem Heimat-Gasthof in Lichtenberg kennen, wo auch oft getanzt wurde. „Di Dorfbuabm hobm obr nit sou guat tonzn kennt, wia di Berger“, lacht sie. Luis fuhr oft mit der Seilbahn zu ihr auf den Berg und warb um sie. 1956 heiratete sie ihn und zog mit ihm in sein neues Haus. „Miar hobm selm a lars Haus kopp“, erklärt sie. Er kümmerte sich um die Viehwirtschaft des Gastbetriebes. „Denn dr Luis isch Baur mit Leib unt Seele gwesn“, unterstreicht sie. Maria unterstützte ihn. Nach und nach richteten sie das Haus ein, das schon bald die Kinder Elfriede, Ulrike, Mathilde und Hansjörg mit Leben füllten. Und sie bauten ihren eigenen Stall und Stadel. Ihr Leben war geprägt von Arbeit und Sparsamkeit. Nachdem ihr Sohn Hansjörg in ihre Fußstapfen getreten war, konnten es Maria und Luis ruhiger angehen lassen und sich mehr Zeit miteinander gönnen, doch Luis starb 2007 an einer Lungenentzündung. Maria hatte nie das Bedürfnis Urlaub zu machen. Nur anlässlich des 80. Geburtstags ihres Bruders Hubert trat sie 2010 eine Reise nach Hamburg an, wo ihre Tochter Ulrike lebt. „Selm hon i s’Meer gsechn, obr i hon fa dein Wossr a Wilde“, meint sie. Mit Hubert und mit ihrer älteren Schwester Hanna pflegte Maria stets ein inniges Verhältnis. Dass nun beide nicht mehr da sind, stimmt sie traurig. Denn sie hatte es geliebt, mit ihnen Erinnerungen an ihre gemeinsame Jugendzeit auf dem Wallnöfhof auszutauschen.