Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Martin, 11. November 2021
Das staatliche Rahmengesetz Nr. 394/1991 über die geschützten Gebiete verfügt unter den Verboten in den Nationalparken unter anderem den Fang, die Tötung, die Schädigung und die Störung der Tierarten.
Eine einzige Ausnahme von diesem Verbot sieht ein Absatz 4 im Artikel 11des oben genannten Gesetzes vor: Entnahmen von Wildtieren (auch durch selektive Abschüsse) sind nur zulässig, um nachgewiesene Störungen des ökologischen Gleichgewichtes auszugleichen. Derselbe Absatz verfügt auch, dass die Entnahmen oder Abschüsse vom Parkpersonal oder von dafür ausdrücklich ermächtigten Personen vorgenommen werden müssen.
Zur Erinnerung
Im Nationalpark Stilfserjoch hatte die vormalige Parkverwaltung der staatlichen Forst- und Domänenverwaltung ex-ASFD vor 1991 jährlich eine definierte Anzahl der Schalenwildarten Rotwild, Reh und Gämse den lokalen Jägern zum Abschuss freigegeben. Der WWF und andere Naturschutzorganisationen legten vor dem Staatsrat gegen diese Jagdpraxis Rekurs ein und erhielten Recht. Die Abschüsse von Wildtierarten im Nationalpark Stilfserjoch mussten eingestellt werden. Die Rotwildpopulation wuchs in den Folgejahren auf ca. 10.000 Stück im Parkgebiet und in den angrenzenden Nachbartälern. Die Folgen: Verbiss- und Schälschäden am Waldbestand und Fraß- und Trittschäden in den Mähwiesen, in den Dauerkulturen der Obstanlagen und in den Sonderkulturen wie Erdbeeren. Kilometerlange Schutzzäune als Gebietswildzäune und Einzeleinzäunungen der landwirtschaftlichen Kulturen waren eine erste Reaktion auf die Schäden in der Landwirtschaft. Durch die Einzäunungen wurden etwa die saisonalen Wanderungen des Rotwildes von den Sommer- in die Wintereinstände und umgekehrt unterbrochen. Und in den eingeengten Waldlebensräumen stieg die Rotwilddichte bis auf 13,5 Stück je 100 Hektar. Eine wissenschaftliche Erhebung der Verbiss-Schäden am Baumbestand des Waldes, welche wir als Nationalparkverwaltung zusammen mit der Südtiroler Landesabteilung Forstwirtschaft in den Jahren 1980-er Jahren durchgeführt haben, ergab, dass beispielsweise bis zu 70% der Endtriebe von Fichten verbissen waren und die Bäume in der Folge nicht mehr in den Schaft wuchsen, sondern nur einen kegelförmigen Krüppelwuchs aufwiesen. Der Bergwald hatte kaum noch eine natürliche Verjüngung und musste so auf mittlere und lange Sicht sein Schutz- und Nutzfunktion verlieren.
Paratuberkulose bei zu hoher Dichte
Laboruntersuchungen von Rotwild post mortem, das in den Jahren 1997- 1999 am Vinschgauer Nörderberg in einer Stichproben-Breite von je 150 Stück Rotwild zur Erhebung von biometriechen Daten und des Gesundheitszustandes entnommen worden war, ergaben, dass beispielsweise ein Drittel der Hirschkälber im Martelltal an Paratuberkulose erkrankt oder Paratuberkulose-Träger war. Die völlig abgemagerten und am Hinterleib verkoteten Tiere hatten im Winter bei geöffneten Scheunentoren die Tennen der Heustadel an den Marteller Höfen aufgesucht und waren ob ihres erbärmlichen Zustandes aufgefallen. Es bestanden auch Risiko und Sorge, dass die Wildkrankheit auf alpgesömmerte Nutztiere übergehen könnte.
Mehrjahresplan zum Rotwildmanagement
In der Folge haben wir als Nationalpark-Verwaltung für das Jahr 2000 einen ersten mehrjährigen Plan zum Monitoring und Management des Rotwildes im Nationalpark erarbeitet auch unter Mithilfe externer und objektiver Verfasser und Huftierexperten. Der Plan wurde von den Gremien des Konsortiums Nationalpark genehmigt, dem nationalen Wildbiologischen Institut (heute ISPRA Istituto Superiore per la Ricerca Ambientale) als Referenzinstitut zur Begutachtung und dem Umweltministerium zur Ermächtigung unterbreitet. Der 1. Managementplan sah zunächst die Reduzierung der Rotwilddiche im Vinschgauer Parkanteil von 10 auf 5 Stück Rotwild je 100 Hektar Wald vor. In der Forstwirtschaft gibt es die Faustregel, dass der Wald seine Naturverjüngung und damit längerfristig seine Schutzfunktion nur behält, wenn ein Rotwildbestand von maximal 5 Stück je 100 Hektar einsteht.
Entnahmen seit dem Herbst 2000
Im Herbst des Jahres 2000 begannen wir zuerst im Vinschgauer Anteil des Nationalparks nach Abschluss der Brunft mit den selektiven Abschüssen von Rotwild. Die Entnahmen erfolgten unter Beteiligung und Mitwirkung der ortsansässigen Revierjäger. Gemäß den Bestimmungen des erwähnten Staatsgesetzes 394/1991 mussten sich die Jäger vorher einem Ausbildungskurs in der Biologie des Rotwildes und einer Prüfung am Schießstand unterziehen, um von der Parkverwaltung als sogenannte Hegespezialisten zu den Ausgängen mit der Waffe und zu den Abschüssen im Schutzgebiet zugelassen zu werden. Den Jägern wurde vermittelt, dass die Entnahmen keine Trophäenjagd sind, sondern selektiv und schwerpunktmäßig auf die weiblichen Tiere und Kälber zugegriffen wird, um Trächtigkeit zu unterbinden und damit den Zuwachs der Population abzufedern. Nach den Regeln des Managementplanes darf jeder Hegespezialist bis zu höchstens 4 Stück Rotwild je Herbstsaison entnehmen. Dabei darf maximal ein männlicher Hirsch bis zu acht Geweihsprossen erlegt werden. Der Abschuss von Kronenhirschen ist untersagt. Alle Ausgänge müssen am Vortag den Förstern der gebietsmäßig zuständigen Parkstation schriftlich gemeldet werden. Die Entnahme ist zeitlich auf die zwei Monate zwischen 15. Oktober und 15. Dezember eingegrenzt. Alle erlegten Stücke müssen vorgewiesen, Fehlschüsse und nicht tödliche Schüsse für Nachsuchen mit Spürhunden gemeldet werden. Von allen erlegten Tieren werden verschiedene biometrische Daten wie etwa Gewicht, Risthöhe und Körperlänge erhoben. Das Wildbret wird an die erlegenden Jäger gegen einen vorab festgelegten Preis verkauft.
Schutz der Weißtanne im Brugger Wald
Von den neun geographischen Untereinheiten, in welche der Nationalpark Stilfserjoch bei der Ausarbeitung des Managementplanes unterteilt worden war, wird inzwischen aus den vier Einheiten Oberer und Unterer Vinschgau, Hinteres Ultental und Valfurva Rotwild entnommen. In der Mikroregion Obervinschgau zwischen dem Tauferer Münstertal und Gomagoi im Trafoital erfolgen die Abschüsse auch zum Schutz und Erhalt der Weißtanne (Abies alba) im sogenannten Brugger Wald zwischen Glurns und Taufers. In diesem Wald stockt ein trockenresistenter, inneralpiner Genotyp der Weißtanne, der ob seiner Trocken- und Frostresistenz genetisch wertvoll und daher besonders schützenswert ist. Vor Beginn der Rotwildabschüsse haben im Brugger Wald im Frühjahr Hunderte Tannensamen je Quadratmeter Waldboden gekeimt, wovon im Herbst nur mehr einzelne dem Fraß durch das Rotwild entgangen waren.
Statistische Gesamtübersicht
Seit dem Jahr 2000, also in den letzten 20 Jahren wurden im Vinschgauer Anteil des Nationalparks und seit ca. 8 Jahren auch in dessen Hinterultner Fläche insgesamt 8.028 Stück Rotwild entnommen. Erst nach der Umsetzung mehrerer Drei- und Fünfjahres-Pläne konnten wir die Dichte von 10 Stück Rotwild auf die angepeilten 5 Stück je 100 Hektar drücken. Im Herbst 2021 dürfen von insgesamt 403 habilitierten und zuge-
lassenen Jägern insgesamt 533 Stück Rotwild entnommen werden (davon zugeordnet an die Parkstation Laas 240, PS Martell 73, PS Stilfs 150 und PS Ulten 70).
Stabilität durch Vielfalt
Aus der Wiederholung der forstlichen Schadenserhebung auf gleichen Probeflächen und bei gleicher Methodik konnten wir feststellen, dass sich der Wald erholt. Auch der Bestand der Rehe erholt sich. Bei den hohen Rotwilddichten war das Rehwild dem Rotwild vor allem in der Winterselektion bei knapperem Äsungsangebot und erhöhtem Konkurrenzdruck unterlegen. Wo das Rotwild ausgedünnt wird, erholt sich auch die Strauchschicht im Unterwuchs des Waldes mit der Heidelbeere als wichtiger Herbstnahrung für das Auerhuhn.
Ein Kernsatz der Ökologie ist jener, dass ein Ökosystem umso stabiler ist, je artenreicher es bei kontrollierter Zahl der Individuen ein und derselben Art ist. Insofern ist die Rotwildregulierung im Nationalpark neben dem Schutz des Waldes und der Berglandwirtschaft in auflassungsgefährdeten Extremlagen auch ein Beitrag zum Erhalt der Artenvielfalt und eben – wie eingangs erwähnt – eine Rückkehr zu einem Gleichgewicht.
Erkenntnis nach 20 Jahren Erfahrung
Nach 20 Jahren Erfahrung traue ich mir den zusammenfassenden Satz zu, dass sich die Beteiligung der ortsansässigen Jäger an den Entnahmeaktionen bewährt hat. Diese Beteiligung der Jäger war von der kritischen Öffentlichkeit nicht nur positiv gesehen worden. Als Parkverwaltung hatten wir sie im Jahr 1997 mit dem damaligen Bezirksjägermeister Hans Folie begonnen, der seinerseits wertvolle Überzeugungsarbeit bei den Jägern zur seriösen Beteiligung und zur Einhaltung der strengen Ziele bei den Entnahmeaktionen geleistet hat.
Es gilt auch die Regel: In der kürzest möglichsten Zeit bei der kleinstmöglichen Störung und bei Vermeidung von Abschüssen der Tiere mit fortgeschrittener Trächtigkeit. Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass die Eigenkontrolle der Jäger untereinander und gegenseitig neben den Kontrollen der Aufsichtsförster ein gutes Kontrollinstrument ist. Allein mit dem verfügbaren Forstpersonal wären die angestrebten Abschusszahlen nicht zu erreichen gewesen.
Bei der ersten Entnahmeaktion im Jahr 2000 hatte der WWF Italien einen Rekurs vor dem Verwaltungsgericht Bozen eingereicht und das Gericht hatte in seinem Urteil die Position des Nationalparks bestätigt. Daraufhin hatte der WWF an den Staatsrat appelliert, aber seinen Rekurs nach den Erfahrungen der ersten Entnahmejahre zurückgezogen. Auch das Umweltministerium hat sich nach anfänglicher Skepsis überzeugen lassen. Der Nationalpark Stilfserjoch war unter den italienischen Nationalparken der erste, der Wildentnahmen zur Wiederherstellung des verlorenen Gleichgewichtes durch- und umsetzen konnte.