Nationalpark Stilfserjoch: Der Haidersee und die Frostberegnung - Klein gegen groß, Ökologie gegen Ökonomie

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Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Franz von Paula, 2. April 2022

Zählt man das künstliche Becken des Reschen-Stausees nicht mit, ist der Haidersee nach dem Kalterer See der zweitgrößte Natursee Südtirols. Er gehört zu den wertvollen, weil seltenen aquatischen Lebensräumen in unserem Land mit offener Wasserfläche sowie Schilfgürtel und Verlandungszone am Nord- und Südufer. Der Schilfgürtel am Südufer mit 7,3858 Hektaren Fläche wurde 1994 als Landesbiotop ausgewiesen, ebenso das baumbestandene Haidersee-Nordufer mit 3,9993 Hektaren Ausdehnung. Vom Fischbestand ist besonders die silbrig beschuppte Renke (Coregonus spec.) als postglaziales Relikt in diesem Binnensee zu erwähnen. Neben Stockenten und Blässhühnern sind aus der Vogelwelt der Schwimmvögel für den Haidersee aus den letzten 20 Jahren Neuzugänge als Brutvögel zu nennen so der Haubentaucher, der Zwergtaucher und die Reiherente. Ein besonderes Kleinod im Laubwaldbestand des Nordufers ist der sibirische Karmingimpel als Neuzugang der letzten Jahre. Für diese Zugvogelart besteht laut dem Zweiten Südtiroler Vogelatlas (2017) bis jetzt ausschließlich am Haider See Brutverdacht.

Frostberegnungswasser aus dem Haidersee
Im heurigen Frühjahr soll nun aus dem Haider See Wasser für die Frostberegnung der Obstanlagen im Vinschgau entnommen werden, weil - wie bekannt - der Druckstollen aus dem Reschensee zum Schludernser Werk derzeit saniert wird. Antragsteller für diesen außerordentlichen Wasserabfluss aus dem Haidersee ist die Energiegesellschaft Alperia Hydropower. Das Wasser aus dem Haidersee kann dabei nicht über den Reschener Druckstollen abgeleitet werden, sondern muss über das natürliche Etschbett über Burgeis, Schleis und Laatsch abfließen. Der Antrag spricht von einer Wassermenge von 6000 Litern pro Sekunde. Diese Ableitung von 6 Sekundenkubikmetern würde im engen Bett der jungen Etsch zu einem enormen Schwallbetrieb führen. Und dieser Schwall bringt eine starke Zunahme der Fließgeschwindigkeit, er mobilisiert das Sohlensediment und führt zu einer erheblichen Eintrübung des Gewässers. Das Gutachten des Südtiroler Landesamtes für Umweltprüfungen vom 15. März 2022 zu dieser Wasserableitung ist mit folgender Begründung negativ: „Die Fischbestandskontrollen, welche die Fischereibehörde bei Burgeis in den letzten Jahren durchführte, haben immer einen sehr guten Fischbestand ergeben, welcher sich vor allem aus Bachforellen und Mühlkoppen in allen Altersklassen sowie einigen Marmorierten Forellen zusammensetzt. Gerade in den Monaten März/April befinden sich die Fischeier noch in einer Entwicklungsphase bzw. es beginnt bereits die empfindliche Schlupfphase. Das geplante Ablassen des benötigten Frostschutzwassers aus dem Haider See würde diese Entwicklungsphase dramatisch beeinträchtigen, sodass von einer weitgehendsten Zerstörung des diesjährigen Jahrganges des Fischbestandes in diesem Gewässerabschnitt ausgegangen werden muss. Aufgrund der schwerwiegenden fischökologischen Auswirkungen kann dem angesuchten Vorhaben nicht zugestimmt werden.“

Die (Mühl-)Koppe ist unser „Tolm“
Die Rote Liste der gefährdeten Tierarten Südtirols von 1994 gibt bei den Fischen für unser Land eine Artenanzahl von 26 Fischarten an. Davon gelten 23 % als stark gefährdet und 38 % als gefährdet. Zu den stark gefährdeten Arten gehört auch die (Mühl-)Koppe (Cottus gobio), dialektal der „Tolm“, was Tödel oder Trottel bedeutet. Die Koppe ist in der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft als Natura 2000-Art eingestuft. Ihr despektierlicher Name ist auf das seltsame Verhalten und das Aussehen dieser Fischart zurückzuführen: Die Koppe hat keine Schwimmblase, sinkt deshalb an den Gewässergrund ab und hält sich dort in klaren, steinigen Bächen, aber auch in stehenden, sauerstoffreichen Gewässern der Kaltwasserzone der Forellenregion bis in 2.000 Metern Höhe auf. Verwandtschaftlich gehört die Koppe zu den Drachenköpfen: Der abgeplattete Kopf ist wie der schuppenlose, keulenartige Körper teilweise mit Stacheln und Strahlen bedeckt. Auch die vordere der beiden Rückenflossen ist strahlenartig, und die großen Brustflossen weisen ebenfalls Strahlenspitzen auf. Meist verharrt die Koppe am Gewässergrund regungslos und verlässt sich auf ihre grün-braun-graue Tarnung. Erst bei unmittelbarer Berührung zeigt sie Fluchtreaktion, schwimmt dann aber seltsam ruckartig nur kurze Strecken.
Neuere Untersuchungen zeigen, dass die Koppe weniger stationär ist als gedacht und große Wanderungen innerhalb der von ihr besiedelten Gewässersysteme unternimmt. Flache Seitenarme sind ein zentrales Element des Lebensraumes, denn dort bauen Koppen ein Nest, in welches das park 2Weibchen 100 – 300 Eier in Klumpen ablegt, die dann vom Männchen bewacht werden. Dieser einheimische Drachenkopf betreibt also Brutpflege!
Wichtig für die Koppe ist, dass Gewässerökosysteme auf ihrer ganzen Länge zugänglich bleiben. Nicht nur Querbauwerke sind hinderlich, sondern auch verkrautete Abschnitte, die von Koppen nicht überwunden werden können. Nährstoff-eintrag durch Gülle oder aus der Luft, der das Zuwachsen von Seitengewässern fördert, stellt leider heute vermehrt auch in höheren Lagen der Alpen ein Problem dar, dem der Tolm trotzen muss. Und besonders auch der Schwallbetrieb in Bächen ist der Koppe Tod.

Ein einordnender Vergleich
Damit die 6 Kubikmeter pro Sekunde Wasserableitung aus dem Haider See vorstellbar werden, habe ich mir die derzeitige Durchflussmenge an Wasser in der Etsch an der Pegelmessstelle in Eyrs besorgt. In den 16 Tagen zwischen dem 8. und dem 23. März sind an dieser Messstelle durchschnittlich 3,82 Kubikmeter Wasser pro Sekunde über die Etsch abgeflossen. Mit anderen Worten: Die Entnahme von 6 m³/s Wasser aus dem Haidersee entspricht der eineinhalbfachen Menge des Abflusses in der Etsch bei Eyrs im heurigen März! Unschwer vorauszusehen, dass der Schilfgürtel und die Nassvegetation am See als ökologisch wertvoller Brutraum für Fische und Schwimmvögel trockenfällt.

Unser Landeshauptmann erklärt die Nachhaltigkeitsziele
Szenenwechsel: Schlanders, am Donnerstag, 17. März dieses Jahres, Abendveranstaltung im Schönherr-Kultursaal: Unser Landeshauptmann Arno Kompatscher präsentiert und erklärt die Nachhaltigkeitsziele für unser Land Südtirol. Die Broschüre „Gemeinsam für die Nachhaltigkeit“ wird verteilt. Kurzvortrag des Landeshauptmannes mit professioneller Moderation, technisch gekonnter Regie und Bürgerbeteiligung via Mobiltelefon, Bündelung der Fragen aus dem Auditorium mittels Telefonbeschlagwortung und Antworten des Landeshauptmannes. Keine direkten Fragen, sondern Artikulation über die Technik der Mobiltelefonie und Filterung. Schade drum!
Ich schreibe einige Kernaussagen unseres Landeshauptmannes aus seinen Statements mit: Wir müssen drei Krisen bewältigen: die Klimakrise, die Biodiversitätskrise und die Ressourcenkrise…. Die 17 Ziele zur Nachhaltigkeit sind von den Vereinten Nationen definiert und enthalten soziale, wirtschaftliche und Umweltziele… Innerhalb der Ziele und einzelner Zielgruppen gibt es Zielkonflikte… Ein Ziel muss so realisiert werden, dass für ein anderes Ziel kein Schaden entsteht…Wie werden vieles neu oder anders machen oder gar lassen müssen….Zur Kontrolle der Ziele gibt es bereits einen Maßstab mit den 87 Instrumenten des Landesstatistikinstitutes ASTAT, international sind dazu 150 Parameter definiert worden… Die Umsetzung der Nachhaltigkeit ist ein partezipativer Prozess…Wir werden bei uns selbst, jeder für sich, beginnen müssen, unseren ökologischen Fußabdruck zu reduzieren.

Ermächtigung zur Wasserentnahme
Gegen das oben schon erwähnte negative Gutachten aus dem Amt für Umweltverträglichkeit unterzeichnet der Landeshauptmann die Verwaltungsmaßnahme zur Wasserentnahme aus dem Haider See für die Frostberegnung in den mittelvinschgauer Apfelkulturen 2022.
In der Rubrik „Vorausgeschickt“ auf der Titelseite der Tageszeitung „Dolomiten“ in deren Ausgabe vom Montag, 21. März d. J. schreibt Notburga Pardatscher Abarth meines Erachtens völlig zurecht: „In diesem Fall liegt die Entscheidung bei der Politik. Nachhaltigkeit gehört in ihren Verantwortungsbereich – aber nicht nur. Sie muss ein wichtiger Aspekt bei Entscheidungen im Alltag sein, aber jeder Einzelne und jede Einzelne muss abwägen, ob es nicht höchst an der Zeit ist, im Sinne der Nachhaltigkeit einen Schritt aus der Komfortzone zu machen.“
Es bleibt nur zu hoffen, dass wegen ausbleibender Frostnächte kein Wasser aus dem Haidersee entnommen werden muss und die Sanierung des Druckstollens aus dem Reschensee bis zum 4. April d. J. – wie angekündigt – fertiggestellt wird. Sonst werden die ökologischen Schäden am Haidersee und an der jungen Etsch groß sein.

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