Dienstag, 18 Oktober 2016 12:00

„Alles reglementieren wäre der falsche Weg“

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s10 Toni Stocker2Vinschgerwind: Am 19. Mai 2016, um 3 Uhr in der Früh auf dem höchsten Berg der Welt, dem 8848 m hohen Mount Everest. Was ist das für ein Gefühl?
Toni Stocker: Der ganze Aufstieg war ein großes Erlebnis, eine große Erfahrung und ein großer Erfolg. Bei den letzten Metern vor dem Gipfel spürt man vor allem Erleichterung nach einem strapaziösen Aufstieg, der viel Energie und Kraft kostet.

Die richtige Freude kommt aber erst später. Als ich auf dem Gipfel stand, wurde mir bewusst, dass das kein Ort ist wo man länger bleiben kann. Wir waren nur 15 Minuten auf dem Gipfel und haben Fotos gemacht.

Vinschgerwind: Wie kam es zu dieser Expedition?
Stocker: Ich war schon öfter als Bergführer mit anderen im Basiscamp und habe dort vor mir den Everest gesehen, habe aber nie geglaubt, dass ich mal das Glück bzw. die Möglichkeit haben werde ihn zu besteigen. Eine österreichische Agentur hat mir angeboten, Gäste dorthin zu begleiten und ich habe die Gelegenheit wahrgenommen.

Vinschgerwind: Mit welchen Gefahren muss man rechnen, wie nahe spürt man den Tod, wenn man sich in der Todeszone befindet?
Stocker: Man muss sich vorher schon Gedanken machen und klarwerden, was für Gefahren es da gibt. Die Südroute von Nepal aus ist gefährlich. Da muss man durch den Khumbueisbruch und da besteht die Gefahr von Eislawinen. Außerdem gibt es Steinlawinen. Am Berg gibt es immer ein Restrisiko. Auch das Wetter kann umschlagen.

Vinschgerwind: Beim Abstieg kam es zu Erfrierungen. Waren das kritische Momente?
Stocker: Auf dem Gipfel war es sehr kalt, Minus 40 Grad. Beim Abstieg habe ich gemerkt, dass die Kälte in die Füße vordringt. Ich habe versucht mich zu wärmen und glaubte, es würde gehen. Am Südsattel habe ich gespürt, dass ich mir Erfrierungen zugezogen habe. Ich bin noch am selben Tag ins Lager zwei auf 6.500 Meter abgestiegen. Am nächsten Tag wurde ich mit einem Hubschrauber nach Katmandu geflogen. Dort blieb ich eine Woche im Krankenhaus. Nach der Rückkehr nach Südtirol war ich nochmals 5 ½ Wochen im Krankenhaus. Drei Zehen mussten teilweise amputiert werden. Das ist einerseits tragisch, andererseits eine ganz wichtige Erfahrung. Ich kann sagen, dass ich noch mit einem blauen Auge davon gekommen bin.

Vinschgerwind:Wie groß ist die Chance, dass man überhaupt auf den Gipfel kommt?
Stocker: Das Zeitfenster für die Besteigung des Everest geht vom 10. Mai bis Ende Mai. In dieser Zeit gibt es wenige Tage um den Gipfel zu besteigen. Es braucht Mut, um so etwas anzugehen und es braucht viel Eigenverantwortung. Jeder muss sich fragen ob er die Voraussetzungen hat, um diesen Berg zu besteigen.
Vinschgerwind: Wie viele Leute besteigen jährlich den Gipfel und was kostet das?
Stocker: In den letzten zwei Jahren wurde der Everest nicht bestiegen. 1914 gab es ein großes Lawinenunglück, wo 16 Sherpas ums Leben kamen. Daraufhin wurden alle Expeditionen gestoppt. 2015 gab es das verheerende Erdbeben in Nepal. 2016 wurden rund 380 Genehmigungen von Nepal ausgestellt und rund 300 Personen haben dann tatsächlich den Gipfel erreicht. Von diesen Everestbezwingern waren viele Sherpas dabei, welche die Leute bis zum Gipfel begleiten. Ohne die Sherpas würden die meisten den Gipfel nicht erreichen. Eine Everest Expedition kostet 50.000 bis 70.000 Euro.  

Vinschgerwind: Was für Leute besteigen den Everest?
Stocker: Am Everest sind viele Leute unterwegs, die eigentlich am falschen Berg unterwegs sind. Viele haben weder die technischen noch die physischen Voraussetzungen, das einzige was sie haben ist viel Geld und sie glauben sich damit diesen Gipfel erkaufen zu können. Ich habe die einmalige Gelegenheit genützt, aber ich bin ganz sicher nicht der große 8.000er Sammler und habe auch nicht vor, weitere 8.000er zu besteigen. Es gibt viele schöne Berge in Asien und in Südamerika, die nur 6.000 Meter hoch sind, wo man aber das gleiche Gipfelerlebnis haben kann wie am Everest.

Vinschgerwind: Zusammen mit sieben weiteren Bergführern betreibt ihr die Alpinschule „feel the mountains“. Wie oft besteigt ein Bergführer den Ortler?
Stocker: Ich war bereits einige hundert Mal am Ortler, genau weiß ich es nicht, ich habe nie gezählt. Das erste Mal war ich mit 12 Jahren auf dem Ortler. Mich haben die Berge bereits als Kind fasziniert. Der Traum einmal den Beruf des Bergführers auszuüben, war schon sehr früh da.
Vinschgerwind: Als Bergführer ist man rund 250 Tage im Jahr in den Bergen. Welche Berge besteigt ihr von der Alpinschule zusammen mit Gästen und Touristen in Europa und außerhalb von Europa?
Stocker: Wir haben das Glück hier in einer wunderbaren Bergwelt zu leben. Wir sind viel im Ortlergebiet unterwegs. Aber es ist auch wichtig hinauszugehen, den Horizont zu erweitern. Die Routine kann auch zu einer Gefahr werden. Wir von der Alpinschule sind im ganzen Alpenraum unterwegs, vom Matterhorn bis zum Mount Blanc, auch in den Dolomiten, außerdem in Afrika, in Südamerika und im Himalaja.

Vinschgerwind: Bergsteigen ist eine gefährliche Sportart. Viele kommen vom Berg nicht mehr lebend zurück. Wie gefährlich ist das Bergsteigen?
Stocker: Natürlich gibt es am Berg Gefahren. Auch ich habe Bergfreunde am Berg verloren. Man kann sich vorbereiten, es gibt Kurse. Im Verhältnis, wenn man bedenkt wie viele Leute in den Bergen unterwegs sind, passiert nicht viel. Auf der Straße passieren viel mehr Unfälle. Wahrscheinlich ist es in den Bergen weniger gefährlich als auf der Straße.

Vinschgerwind: Der Mensch sucht das Abenteuer, das Risiko, den Nervenkitzel. Bergsteiger sind Grenzgänger. Viele suchen nach neuen Abenteuern durch neue Sportarten, die noch gefährlicher sind, z.B. Base-Jumping. Gibt es Grenzen oder ist alles erlaubt?
Stocker: Da muss man an die Eigenverantwortung appellieren. Aber niemand begibt sich einfach so in eine Wand, alle bereiten sich vor. Natürlich gibt es ein Restrisiko. Natürlich gibt es Unfälle, aber das gibt es sonst auch. Wenn wir heute nicht mehr an unsere Grenzen gehen dürfen und diese Grenzen nicht ausloten dürfen, dann würden wir in unserem Leben einfach stehen bleiben. Jedes Kind probiert, seine Grenzen auszuloten. Dem Menschen die Freiheit zu nehmen und alles zu reglementieren, das wäre der falsche Weg.

Vinschgerwind: Die Einzigartigkeit unserer Bergwelt ist unser Kapital. Wie kann der Zauber der Bergwelt erhalten bleiben, wie viele Infrastrukturen in den Alpen braucht es?
Stocker: Wir leben in einer wunderbaren Naturlandschaft und nehmen sie oft gar nicht wahr, so dass Touristen uns wachrütteln und uns auf die Schönheiten unserer Bergwelt hinweisen müssen. Diese Naturlandschaft muss bewahrt werden, aber als Tourismusland braucht es auch Infrastrukturen. Aber wir müssen uns Gedanken machen, was wir noch alles verbauen wollen und wie weit hinauf wir noch wollen.

Vinschgerwind: Wohin führt die nächste Expedition?
Stocker: Mich faszinieren andere Menschen, andere Kulturen, andere Berge. Wenn man wieder zurückkommt, sieht man das eigene Land etwas anders. Meine nächste Reise führt mich wieder nach Afrika, zum Kilimandscharo, wo ich schon öfters war.

Interview: Heinrich Zoderer

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