Aus dem Gerichtssaal - Der Malser Heimatkundler Robert Winkler erklärt in seinen Volkssagen, wie die Vinschger zu Lügnern wurden. Demnach wollte der Herrgott, als er den Vinschgau erschuf, daraus ein besonders schönes Stück Erde machen. Er umgab das Tal mit den höchsten Bergen, breitete dazwischen eine fruchtbare Ebene aus und beschenkte die Gegend mit einer besonders guten Luft. Die Leute waren grundehrliche Menschen, also richtige „gerade Michl“. Als einige von ihnen auswanderten, brachten sie, als sie heimkehrten, das Laster der Lüge mit. Die Ältesten des Tales zogen sie deswegen zur Verantwortung und brachten sie vor Gericht. Dort rechtfertigten sich die Beschuldigten damit, dass ihnen draußen in der Welt gar nichts anderes übrig geblieben wäre als zu lügen, weil die Leute dort die Wahrheit nicht vertrugen! Die Ältesten tadelten die Angeklagten zwar scharf, gleichzeitig wurde aber beschlossen, dass jeder Vinschger, der im Sinne hatte, auszuwandern, vorher das Lügen erlernen musste, damit er in der Fremde weiterkäme. Damit haben wir also eine Erklärung dafür, warum wir in diesen Ruf geraten sind: wir sind quasi Notlügner!
Der angeblich saloppe Umgang der Vinschger mit der Wahrheit kam vor ein paar Jahrzehnten auch in einem Prozess vor dem damaligen Bezirksgericht Schlanders zur Sprache. Verfahrensbeteiligte waren ein Vinschger und ein Burggräfler. Nachdem die Beweislage nicht ganz eindeutig war, bot der Vinschger an, die bestehende Beweislücke durch einen sogenannten Ergänzungseid zu schließen. Als der Richter auf diesen Antrag einging und es dem Vinschger erlaubte, durch seine eidesstattliche Erklärung den Ausgang des Prozesses zu seinen Gunsten zu beeinflussen, widersetzte sich der Burggräfler über seinen Anwalt vehement gegen diesen Beweisbeschluss mit der Begründung: ….“perchè è risaputo che i Venostani scendono a continui compromessi con la verità“, also weil die Vinschger ein gestörtes Verhältnis zur Wahrheit hätten. Der Meraner Advokat unterließ es auch nicht, an einen legendären Meineid aus der Vinschger Vergangenheit zu erinnern, als ein Kortscher vor dem gerichtlichen Augenschein im Schlandrauntal noch schnell Erde aus seinem Garten in seine Schuhe schüttete und einen Löffel unter seinen Hut schob, um dann vor dem Richter den Verlauf der Grenze zwischen Schlanders und Kortsch in der Weise zu beschwören:“ So wahr der Schöpfer über mir ist, stehe ich hier auf Kortscher Erde“! Er konnte sich auch den Seitenhieb nicht verkneifen, wonach es im Vinschgau die Redewendung gäbe: “Beschwören könnte ich das schon, aber wetten würde ich darauf nicht.“
Doch zu unserer Entlastung fällt mir eine Episode ein, welche sich ebenfalls vor Gericht, allerdings am Nonsberg zugetragen hat. Dort stritten sich zwei Bauern um eine Kuh, von der jeder behauptete, dass sie ihm gehöre. Auch der dortige Richter tat sich schwer, den Prozess anhand der vorhandenen Beweise zu entscheiden. Also schob er einer Partei den Eid zu. Der Bauer, dem dieses Glück zuteil wurde, frohlockte: “ah, se la và per il giuramento allora la vacca s’è mia“!
Peter Tappeiner, Rechtsanwalt
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