Wilhelmina Pinggera erblickte am 30. Januar 1930 das Licht der Welt, am östlichsten Ort der Schweiz - nahe der italienischen Grenze: in Müstair. Trotzdem fühle sie sich durch ihre unmittelbare Nähe zum Vinschgau als „Tiroulrin“, weiter ausgeführt als eine „Tiroulrin fa do“, dem Schweizer Grenzgebiet; die Deutsch, Rätoromanisch und Vinschgerisch spricht.
Als Bauerntochter war Wilhelmina gewohnt, früh mit anzupacken, auch in einer der härtesten Zeiten ihres Lebens: ihrer Kindheit. Ihr Vater verstarb an einer Lungenentzündung, das tapfere Mädchen bewirtschaftete nun den Hof mit ihrem Bruder, der Halbschwester und ihrer Mutter.
Kindheit hatte sie keine, sagt sie. Dafür war keine Zeit. Autos, Waschmaschinen, Fernseher, „Zuig, olls as Plastik“, gab es in ihrer Zeit nicht, eine Zeit die entbehrungsreich war. Alleine um zur Schule zu kommen, ging sie über vier Stunden zu Fuß, bei jeglichem Wetter. „S uanzige Glück wor, dass mir deitsche Schule kop han“, erwähnt sie, mitwissend, wie es ihren „italienischen Nachbarn“ erging. Auch der Krieg zog wortwörtlich an Wilhelmina vorbei: die Schweiz war neutral, es überflogen damals lediglich ein paar Bomber das Grenzgebiet. Sie schaute damals als junges Mädchen erstaunt und etwas ängstlich den Fliegern zu. Sie erkannte allerdings bald, dass von diesen „eigenartigen Vögeln“ keine Gefahr ausging. Zumindest keine ernsthafte: das Einzige, was bei einem versehentlichen Abwurf zerstört wurde, war - und dabei musste sie lachen – ihr geliebtes Klohäuschen.
Währenddessen verlief die Arbeit weiter, und so anstrengend die Arbeit auf den steilen Feldern und in der beschwerlichen Viehwirtschaft auch war: die dutzend Kühe, die Ziegen, und sogar der „wie fauler Fisch stinkende“ Bock waren ihr einziger Trost. „Die Viechr hon i liabr als die Leit, die sem sein nicht nochtrognd“, äußert sie mit Wohlwollen.
Aus Kostengründen kamen meistens Polenta und Kartoffeln auf den Tisch. Hie und da gab es auch ein Stückchen Fleisch. Die Köchin am Hof war sie. Nicht einfach sei es gewesen, aus dem Wenigen was da war, etwas zuzubereiten; aber es gelang ihr meistens, die „Mäuler zu stopfen“. „Hoagl waren sie damals alle nicht“, bekennt Wilhelmina, „weil man früher froh war, überhaupt etwas zu essen“.
Heute im Seniorenheim geht es der kecken Tierliebhaberin deutlich besser, sie fühlt sich wohl. Einen Mann brauche sie da nicht, sie habe alles, was sie braucht: eine nette Gesellschaft um sich herum, Tiere zum Kuscheln, wie ein Kätzchen und zwei Streichelhasen, und genügend zum Essen. Es ist eine entspannendere, genüsslichere Phase in ihr Leben getreten, in der sie endlich lange ausschlafen darf. Vor halb zehn stehe sie nicht auf, „weili nix mehr zun versaumen han“ erklärt sie. Die meiste Zeit verbringt Wilhelmina in ihrem flauschig grünen Sessel, der immer für sie reserviert ist. Umrahmt ist ihr Sessel mit Bilder und Fotografien von ihren geliebten Tieren. Sie strickt gerne und vertreibt sich liebend gern die Zeit mit Späßen mit den PflegerInnen. Nur am Aktivitätsprogramm nimmt sie nicht teil, „singen und tanzen mog i nit“, begründet sie unbekümmert. Erst kürzlich kam der Chefarzt Dr. von Fellenberg samt Kindern mit einem „besonderes haarigem“ Besuch, der nach Wilhelminas Geschmack war: er brachte nichts geringeres als sein Hängebauchschwein mit. „Sem han i a Freid kop, i han olle Viechlen gearn, a die lustigen, hoorign, mogrn und so weiter“, schmunzelt sie.
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