Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Benedikt von Nursia, 11. Juli 2011
Der große schwedische Naturforscher und Ideator der heute noch gültigen pflanzlichen und tierischen Systematik Carl von Linnè (1707-1778) nannte die Zwergweiden „minima inter arbores“ d.h. die kleinsten unter den Bäumen. Zwergweiden sind verholzende Spaliersträucher, welche eng an den Boden angeschmiegte Kriechsprosse bilden und in der alpinen Höhenstufe oberhalb der Waldgrenze als standortangepasste Spezialisten gedeihen. Den Zwergweiden und anderen Sträuchern in der Vegetationsstufe der Zwergstrauchheide ist der heutige Beitrag gewidmet.
Stamm, Säbelwuchs und Kriechspross
Im Hochgebirge ist für die verholzenden Pflanzen der aufrechte Wuchs in Stammform nicht mehr die geeignete Reaktion auf das unwirtliche Klima und die extremen Standortbedingungen. Die frostfreien Monate dauern oberhalb der Baumgrenze in den Alpen oft weniger als drei Monate an. Dementsprechend lange bleibt der Boden gefroren. Und Eis im Boden ist jener Aggregatzustand des Wassers, der für die Wurzeln nicht verwertbar ist. Wachstum des Pflanzenkörpers unterbleibt. In der verkürzten Wachstumsperiode kommen die holzigen Pflanzen oberhalb der Baumgrenze auch an eine zeitliche Grenze, weil sie in der kurzen, für die Fotosynthese tauglichen Periode nicht ausreichend Lignin als Gerüstsubstanz des Holzes produzieren können.
Die erfolgreichen Reaktionen, welche die Hochgebirgspflanzen im Laufe ihrer Evolution entwickelt haben, heißen Säbelwuchs und niederliegender Kriechspross. Der senkrechte, schaftbildende Stamm ist eine geeignete Wuchsform im Wald, um das Lichtangebot bestmöglichst auszunutzen, er ist aber kein taugliches Rezept, um in Lawinenbahnen oder Erosionsrunsen zu bestehen. In solchen Rinnen überleben beispielweise Grünerlen, welche vielstämmig sind und ihre Äste in Säbelwuchs formen: Nach Überschüttung durch Schneelawinen bersten die Äste nicht, sondern sie können biegsam die Schneelast ertragen und sich nach dem Ausapern wieder aufrichten. Das gleiche Prinzip des Säbelwuchses benützen auch die Legföhren oder Latschen als Erstbesiedler unter den nadelbildenden Holzarten auf den noch instabilen Böden steiler Dolomitschuttkare.
Schneetälchen und Windgrat
Im Gebirge schwankt das Kleinklima in den bodennahen Schichten innerhalb weniger Quadratmeter sehr stark. Die bestimmenden Faktoren dieses Mikroklimas sind dabei die Dauer der Schneebedeckung, die Lufttemperatur, die Strahlungsintensität und die austrocknende Kraft des Windes. Ein markantes Beispiel für diesen Wechsel der Standortfaktoren innerhalb von wenigen Quadratmetern Boden ist das unmittelbare Nebeneinander von sogenannten Schneetälchen und windaperen Graten.
In die Schneetälchen verfrachtet der Wind die Schneemassen. Die mächtige Triebschneeansammlung sorgt für eine lange andauernde Schneebedeckung der Bodenmulde. Und nur im Schutz der wärmenden Schneedecke im Windlee überleben austrocknungsempfindliche Pflanzenarten wie beispielsweise die Rostrote Alpenrose (Rhododenron ferrugineum) als noch verholzender Strauch und Charakterart im Zwergstrauchgürtel oberhalb der Waldgrenze. Die Alpenrose liebt es feucht und warm im Schutz der Schneedecke.
Die Gämsheide oder Alpen-Azalee (Loiseleuria procumbens) hingegen liebt es windig. Sie hat sich an die ökologische Nische des windaperen Grates angepasst. Auf solchen Graten herrschen extreme Strahlungsbedingungen und es besteht die Gefahr auszutrocknen. Dieser Gefahr begegnet die Gämsheide durch eine extreme Verkleinerung ihrer Blätter. Große Blätter würden im Extremfall tödlichen Wasserverlust durch Verdunstung an die trockene Luft bedeuten. Dem setzt die Gämsheide als evolutionäre Anpassung kleinste nach unten und nach innen gewölbte Rollblätter entgegen. Zudem sind die Blättchen oberseits ledrig und dadurch erhöht sich ihre Austrocknungsresistenz weiter. Zu diesen morphologischen Anpassungen in der Wuchsform kommt noch eine weitere anatomische Anpassungen im inneren Aufbau des Blattes hinzu: Die Spaltöffnungen zur Aufnahme des Kohlendioxyds und zur Abgabe von Sauerstoff als Atemgase der Fotosynthese befinden sich ausschließlich an der sonnenabgewendeten Unterseite der Blättchen. Auf diese Weise wird die schädliche, weil austrocknende Kraft der Sonne abgepuffert.
Kriechspross im Humus
Die eingangs erwähnten Zwergweiden haben über den biegsamen Säbelwuchs hinaus den Kriechspross als weitergehende Anpassung an die Extreme des Hochgebirgsklimas entwickelt. Mit dieser Wuchsform trotzen sie der langen Schnee-bedeckung und der hohen Schneelast. Die weit oberhalb der Baumgrenze in der kurzen Vegetationszeit immer noch verholzenden Triebe der verschiedenen Arten von alpinen Zwergweiden bleiben eng an den Boden angeschmiegt oder wachsen überhaupt erdbedeckt in der oberen Humusschicht des Bodens. Die dunkle Farbe des Humus absorbiert zusätzliches und wärmendes Sonnenlicht und verbessert damit die Temperaturbedingungen auf und im Boden. Die dunkle Erdkrume funktioniert gleichsam als wärmende Bettflasche in diesem kleinräumigen Mikroklima. Und bei manchen Arten von Zwergweiden ragen dann vom ganzen Pflanzenkörper nur die fotosyntheseaktiven Blätter aus dem Boden, während sich unterirdisch Hunderte Meter lange, vielfach verzweigte und Jahrzehnte alte Kriechsprosse ausgebildet haben. Mit den vielen Senkwurzeln dieser Kriechsprosse festigen die Zwergweiden instabile Böden im Hochgebirge. In der Ingenieurbiologie werden manche Arten von alpinen Zwergweiden deshalb auch als Bodenfestiger eingesetzt.
Zweihäusigkeit
Die Pflanzenfamilie der Weiden (Salicaceae) ist zweihäusig. Das bedeutet, die Blüten sind zu weiblichen und männlichen Ähren („Kätzchen“) vereinigt, die aber nicht auf dem gleichen Strauch gedeihen, sondern auf zwei verschiedene, eingeschlechtig weibliche und männliche Sträucher („Häuser“) verteilt sind. Zweihäusig unter den landwirtschaftlich genutzten Kulturpflanzen sind z.B. die Kiwis.
Einhäusige Pflanzen hingegen tragen männliche und weibliche Blüten in einem Haus, d.h. auf ein und demselben Strauch oder Baum. Beispiele für einhäusige Planzen sind die Lärche, Fichte und Föhre unter den einheimischen Nadelbäumen oder die Hasel und die Birke unter den Laubbaumarten.
Die „Standardform“ der Blüte ist bei der überwiegenden Artenzahl der Blütenpflanzen jedoch die Zwitterblüte: Im Laufe der Evolution haben die meisten Blütenpflanzen diese Form der Bestäubung und Befruchtung zur Samenproduktion entwickelt: Männliche Staubgefäße und weibliche Fruchtknoten sind in einer Blütenhülle auf derselben Pflanze vereinigt.
Alpine Zwergweiden
Wer in Bestimmungsbüchern zur Alpinflora vertiefend weiterlesen will, dem seien zum Abschluss die wichtigsten Arten von Zwergweiden zusammengefast, welche in den Magerrasen, Hochstaudenfluren, Schneetälchen und anderen Standorten über der Waldgrenze der Alpen gedeihen:
• Bäumchen-Weide – Salix waldsteiniana
• Netzblättrige Weide – Salix reticulata
• Stumpfblättrige Weide – Salix retusa
• Krautweide – Salix herbacea
• Schweizer Weide – Salix helvetica.
Diese Weiden-Arten unterscheiden sich außer in der Wuchsform ihres Gesamtköpers vor allem in der Form der Blätter, deren Randausformung, Behaarung und Nervatur.
Zeitung Vinschgerwind Bezirk Vinschgau