Perger genießt das Dreiländereck, in dem er lebt und in dem sich seine Arbeit abwickelt mit den Sprachen Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch (Englisch kommt natürlich dazu, wahscheinich auch Französisch). Gemeint ist hier Pergers Freude an der Vielsprachigkeit, was eigentlich ganz selbstverständlich ist, jedenfalls in der Schweiz. Und dorthin führt eine andere Spur seiner Arbeit und zwar an die ETH Zürich, wo man sich unter anderem mit dem Problem der Abwanderung aus den Dörfern beschäftigt. Der Partner, mit dem er dort am meisten zusammenarbeitet, ist Gion Caminada, der bekannte Architekt, der selber in einem kleinen Dorf in der Peripherie wohnt. Dazu Markus Larcher (FF Nr.44, 29.Okt. 2015) im Kulturportrait über Caminada: „Es ist ihm ein großes Anliegen, dass diese Dörfer nicht ihre Lebenskraft verlieren. Das geht nur, wenn es in der Peripherie etwas Starkes gibt, das Anziehungskraft hat. Dafür muss man was tun...Wir wünschen, dass diese Lebensformen auch viel mit Handwerk zu tun haben.“
Weder bei den Architekten noch bei den Handwerkern gibt es ein Fach, das die kulturelle Identität einer Region vermittelt oder verstärkt. Im demnächst beginnenden Masterlehrgang der Weiterbildungsuniversität Krems geht es darum „die Sinne neu zu schärfen“.
Getragen wird diese Universität von drei Regionen: Graubünden, Vinschgau, Wachau. Immer deutlicher werden die architektonischen Gemeinsamkeiten zwischen dem Obervinschgau und Graubünden, jedenfalls was die alte Baukultur betrifft. Warum ist dieser Jahrhunderte alte Zusammenhang zerbrochen?
In Müstair befinden wir uns im ehemaligen Verwaltungsbezirk Obercalven; unter der Churer Verwaltung war der Obervinschgau Untercalven. Das wurde fast vergessen. Lange wurden immer nur die Schrecken der Kriegsereignisse von 1499 als entscheidend für diese Entfremdung genannt. Trennend wirkte später die konfessionellen Streitereien zwischen Katholiken und Reformierten; geblieben ist die Häufigkeit der rätoromanischen Wortwurzeln und Namen. Erst jetzt besinnt man sich auf Gemeinsamkeiten. So entsteht langsam ein friedliches, rätisches Netzwerk.
Das Rätische Dreieck hat auch mit der Vinschger Bahn zu tun, die mit Schweizer Triebwägen fährt und Schweizer Erfahrungen in der Verwaltung nutzt. Sie verbindet Graubünden mit dem Meraner Raum, also Zernez mit Mals im Stundentakt durch eine Busverbindung. Alte Verkehrswege und Vorlieben werden wieder lebendig.
Das Kloster Müstair ist als Weltkulturerbe ein Bezugspunkt für die ganze Gegend. Der Bürgermeister von Mals, Ulrich Veit, leitet die Klosterbuchhandlung, zumal ihm die kulturelle Zusammenschau eine Selbstverständlichkeit ist. Alles, was in Müstair passiert, wirkt wiederum in alle Richtungen, so als gäbe es keine Grenze; Josef Perger ist ein Pionier dieser Öffnung.
Hans Wielander
Patrizia, Trauer als Kunst, ein Pioniergedanke... - Im Laufe unserer Gespräche fiel der Satz: Die Fähigkeit zu trauern ist eine Kunst; sie muss ebenso gepflegt und vertieft werden, wie andere Künste auch.
Dabei denken wir sofort an den aus Naturns gebürtigen Hannes Benedetto Pircher, der in Wien als Grabredner Karriere macht und seine Erfahrungen und Betrachtungen im kürzlich erschienenen Buch erzählt: „SORELLA MORTE - über den Tod und das gute Leben“.
Das ist aber eine andere Geschichte; ich kehre zurück zur Patrizia Pichler, die ihre Tätigkeit vor allem in Innsbruck ausübt. „Der Körper kennt den Weg“, schreibt sie in einem ihre Arbeit begleitenden Folter: „Seit Jahrmillionen weiß der Körper mit dem Trauma umzugehen“. Zivilisationsbedingt haben wir es verlernt. Die Methode „Somatic Experiencing“ nutzt das Wissen des Körpers, Traumata zu lösen.
„Für eine Kultur des Fühlens“ ist ein anderer Satz, den die Patrizia programmatisch aufstellt, im Zusammenhang mit dem Bild eines Lebensbaumes. Dem positiv gedruckten Astwerk steht das negative Wurzelwerk gegenüber, alles zusammen bildet einen schön abgerundeten Kreis. In dieser Abrundung liegt die Wahrheit. Daraus ergeben sich neue Erkenntnisse, wichtig für die Festigung im Lebensprozess.
Und eine Zeile weiter: „Praxis für Trauma - Arbeit und Trauerbegleitung“. Ich versuche, Wurzeln zu schlagen, besser gesagt, ich versuche, mich zurecht zu finden. Habe ich oder kenne ich ein Trauma? Kenne ichTrauer? Vor Kurzem ist ein guter Bekannter gestorben, mit 85 Jahren. Er war mein Studien- und Diskutierfreund, jedenfalls für einen längeren Zeitabschnitt; dann haben sich unsere Wege getrennt und wir haben uns kaum mehr gesehen. Bei seinem Begräbnis in Meran ... habe ich da getrauert? Seine ganze Familie mit all den Verästelungen im ganzen Land und die vielen Bekannten waren versammelt. Trauer als Quelle der Kraft und Lebensfreude. Es war wahrlich ein Familienfest; darüber haben wir alle uns gefreut.
Genau genommen war das eine Verhaltensweise, die wir seit Jahrmillionen kennen: Die Hinterbliebenen feiern. Das kennen wir von“primitiven“ Stämmen, die auch nicht traurig sind, wenn jemand zu den Ahnen geht. Da beginnt ein neues Leben.
Die Angehörigen sind nicht traurig. Trauer herrschte allerdings, als die todkranke und leidende Katze „entsorgt“ werden mussten. Aber ein Trauma war auch das nicht.
„Die Unfähigkeit zu trauern“ fällt mir ein, ein Schlagwort, aber auch das führt in eine andere Richtung.Deshalb bleibe ich bei Patrizias Ausgangspunkt: Trauer als Kunst, die gepflegt sein will, wie alle Künste. Wie ist das eigentlich, wenn ich an einen geliebten Musiker denke, etwa an Schubert? Ein Freund brach in Tränen aus, nachdem er den schön rührend gestalteten Schubertfilm gesehen hatte. Das war ergreifende Musik. Das war echtes Mitgefühl. Der Freund hat geweint und ich habe ihn getröstet.
Die Patrizia schreibt weiter: „Praxis für Traumaarbeit und Trauerbegleitung ...Als Krankenpflegerin auf der Geburtshilfe und später im Hospiz habe ich intensiv Anfang und Ende des Lebens erlebt.“ Ähnliches denken wir, wenn wir uns das Ende Mozarts vergegenwärtigen ...das himmlisch ergreifende Requiem, Musik, die halb im Dieseits, halb im Jenseits verankert ist. Tränen des Ergriffenseins, auch was das Leben des Musikers betrifft. Er wird zum Familienmitglied.
Wenn wir Kunstwerke der Renaissance betrachten - schöne Frauen zum Beispiel - , die kaum religiöse Gedanken wecken, sondern an die Freuden des Lebens erinnern, dann stelle ich mir einen alten Herrn vor, der mit Wehmut an die junge Frau denkt, deren Bild er nun anbetet.
Kunst und Trauer, Kunst als Trauer, Kunst als Ersatz für Trauer und Bewältigung von Traumata. Es gibt Symphonien, in denen die Musikgenies - Beethoven, Brams, Mahler - all ihre Sehnsüchte, Wünsche, Erfüllungen hineinlegen. Wir können an ihrer Gefühlswelt teilnehmen, spüren das Trauma, die schädigende Gewalt, wir fühlen die Spannung, die Brüche, die Erlösung. Über ihre Werke, in denen Trauer und Schmerz läuternd wirken, finden wir Gemeinsamkeit und werden Familie. Das hohe Lied der Trauerbewältigung finden wir in der Musik und im Text der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach. Das Leiden Christi, die Passion, all das wird duchgespielt und endet in jubelnder Trauer, ähnlich wie im afroamerikanischen Gospelgesang.
Kunst ist Trauer, Trauer als Kunst ... das Schönste an unserem Gespäch war das Weiterentwickeln der Frage, ob wir uns in eine künstliche Trauerstimmung versetzen können und inwiefern Trauern eine Kunst wäre. Lachend tranken wir unseren Kaffee und haben Trauma Trauma sein lassen.
Hans Wielander
Tel.+43(0)664/5609212
info@patrizia-pichler.com
www.patrizia-pichler.com
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