Verwaltungspolitisch umfasst die Valle Camonica insgesamt 120.000 Einwohner in derzeit 41 Gemeinden. Überregional bekannt ist die Valle Camonica wegen der Felsritzzeichnungen. 1983 hat die Region Lombardei das Schutzgebiet „Riserva Naturale Incisioni Rupestri Ceto – Cimbergo – Paspardo“ ausgewiesen. Auf bisher 450 aufgefundenen Steinmonolithen und Porphyrfelsen sind Einritzungen mit Symbolen und figuralen Darstellungen der Urzeitmenschen als Jägerkultur dokumentiert. In Capo di Ponte gibt es ein archäologisches Museum zu den Felsritzungen der Valle Camonica. Die Steineinritzungen in der Valle Camonica ähneln in der Wahl der Motive und in der Art der Darstellung stark jenen auf dem marmornen Latscher Menhir. Die Erkenntnisse der Archäologen lehren uns, dass es schon in der Urzeit Kontakt und Tauschhandel unter den Menschen und deren Sippen in den Alpentälern über weite Räume gegeben hat: Die Silex-Steine an den Waffen des Mannes vom Tisenjoch (Ötzi) sollen aus der Valle Camonica stammen.
Die archäologische Grabungsstätte „Tor de Pagà“
In der Gemeinde Vione unweit von Ponte di Legno liegt auf einer Meereshöhe von 2.236 Metern an der oberen Waldgrenze zwischen den Eingängen in die Täler Valgrande und Valle di Canè die Hügelkuppe „Tor de Pagà“ (Turm der Heiden). Der Legende nach haben sich hier herauf die letzten Heiden vor der Zwangschristianisierung durch Karl den Großen in eine versteckte Höhensiedlung zurückgezogen. Bei den Resten dieser Siedlung handelt es sich um viereckige Mauereinfassungen von vormaligen Wohnhäusern und Reste von Wehr- und Aussichtstürmen. Diese Reste haben erstmals im Jahre 1977 das Interesse der Archäologen erweckt, als von Prof. Mario Mirabella Roberti erste Sondierungen vorgenommen wurden. Mario Mirabella Roberti (geboren 1909 in Venedig und dort 2002 verstorben) war Universitätslehrer und Forscher für Archäologie zuerst in Triest, dann in Mailand. Von 1953 bis 1973 leitete er die Abteilung für Denkmalschutz der Region Lombardei in Mailand.
Wahrscheinlicher als die mit der Legende kolportierte Deutung der Höhensiedlung „Tor de Pagà“ ist eine andere Erklärung der Archäologen: Tor de Pagà könnte ein Rückzugsort eines Geschlechtes oder einer Sippe im Frühmittelalter gewesen sein, als sich verschiedene Familiensippen um die territoriale Vormacht im Gebiet der Alta Valle Camonica stritten. Interessant ist die Grabungs- und Fundstätte auch deshalb, weil es sich mit ihrer Höhenlage auf 2.230 m MH um eine der höchstgelegenen Siedlungsstätten im Alpenraum handelt. Ob die Siedlung ganzjährig oder nur saisonal bewohnt war, ist noch abzuklären. Jedenfalls ist Haustierhaltung von Schweinen als Form der Vorratswirtschaft aus den bisherigen Funden an der Grabungsstätte belegt.
Das archäologische Sommercamp Vione
Auf Initiative des derzeitigen Bürgermeisters der Gemeinde Vione Ing. Mauro Testini, seines Zeichens Bauingenieur mit großem Interesse und profundem Wissen zur Geschichte und Frühgeschichte, wurde ab dem Sommer 2011 das Projekt „Archeologia Vione“ gestartet. Im abgelaufenen Sommer 2015 hat das Vorhaben das fünfte Jahr von sommerlichen Grabungskampagnen an der Siedlung „Tor de Pagà“ erreicht. Unter der Koordination des archäologischen Institutes der Universität „Cattolica“ von Mailand und unter der Direktion des Amtes für Bodendenkmäler der Region Lombardei graben Berufsarchäologen, Mitarbeiterinnen der Universitäten Mailand und Pavia und Archäologie-Studenten in Ausbildung die Höhensiedlung aus. Das Konsortium Nationalpark Stilfserjoch beteiligt sich im Rahmen einer Konvention mit einem bescheidenen finanziellen Beitrag an der Abdeckung der Kosten für die Grabungskampagnen.
Bisherige Erkenntnisse
Bis jetzt konnten auf zwei benachbarten Hügelkuppen an diesem markanten Aussichtspunkt an der oberen Waldgrenze der Sonnseite in der Alta Valle Camonica Reste von zwei Wehr- und Aussichttürmen in trocken gestockter und teilweise mit Mörtel verfestigten Natursteinmauern freigelegt werden. Ebenfalls freigelegt werden konnten in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Turmresten Mauern von Behausungen mit Feuerstellen, Vorratskammern und Viehunterständen. Die Knochenfunde um die Feuerstellen belegen den Verzehr sowohl von Haus-, als auch von Wildtieren. Unter anderem wurden Bärenknochen gefunden. Schweineknochen gelten unter Archäologen als Zeichen für einen relativen Wohlstand der Siedler bei Haltung von Haustierarten, welche zu ihrer Fütterung und Überwinterung auch der Vorratshaltung bedurften.
Als Gesamtbild der bisherigen Ausgrabungen und der Beifunde, worunter sich beispielsweise auch Metallfibeln befinden, lässt sich eine frühmittelalterliche, langobardische Besiedlung des Höhenstandortes „Tor de Pagà“ mit Siedlungskontinuität im 11. und 12. Jahrhundert n. Chr. vermuten. Die Besiedlung könnte mit der Eroberung des Gebietes und dessen Einverleibung in die Seerepublik Venedig geendet haben.
Gegen Ende der diesjährigen Grabungskampagne 2015 konnte als Sensationsfund in tieferen Bodenschichten noch ein Brandopferplatz gefunden werden, der laut bisherigen Datierungen der Archäologen auf das 6. Jahrhundert vor Christi Geburt zurückgehen soll. Dieser Fund lässt das Interesse der archäologischen Fachwelt an der Grabungsstätte „Tort de Pagà“ auch für die nächste Zeit hoch bleiben.
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