Dieser Konflikt erinnert an die lebhaften Auseinandersetzungen um den Volksaltar im Bozner Dom. Damals ging es um das Werk des Laaser Künstlers Michael Höllrigl, der im gotisch-barocken Umfeld eine überzeugende Lösung für den Altar finden musste. Entstanden ist ein „mystisch verklärter Opferstein, geschnitten aus mediterran lichtem Marmor, monumental, aber Maße respektierend, zum Raum gewissenhaft proportioniert, in Ehrfurcht vor den Formen der Vergangenheit, einen oberflächlichen Bezug zu ihnen vemeidend.“ So beschreibt Norbert Florineth 1977 den Bozner Volksaltar in der ARUNDA. Als weitere Erklärung meint Höllrigl: Aus lose in der Wüste zusammen gefügten Steinen entstand der erste Opfertisch und damit die Urform des Altars.
Dem Bischof hat der Bezug zum Alten Testament gefallen. Joseph Gargitter (1917-1991) überging die gegnerischen Argumente vieler Bozner Bürger, bekannte sich schützend zur „modernen“ Formgebung und hat sie ausdrücklich gut geheißen.
Ebenso gefallen hat ihm die Kastelbeller Pfarrkirche, ein Werk der Bozner Architekten Abram und Schnabl. Bei der feierlichen Einweihung im Jahr 1974 hat Gargitter die Gläubigen für ihre neue Kirche gelobt. Gar nicht zur Freude der Gemeinde... zumindest des Großteils. Dieser modische Bau wollte gar nicht gefallen. Da war allerhand auszusetzen, die Wände waren so kahl, die Kirchenfenster könnten aus einer Fabrikshalle stammen und nichts vermittle den Reichtum der christlichen Botschaft. Keine Marienbilder oder andere Heilige.
Wer war eigentlich dieser heilige Andreas? Sicherlich wurde die Vita und die Vorbildfunktion des Heiligen erwähnt und erklärt, aber überzeugend war das kaum und das mächtige Andreaskreuz, das als stählerne Dachkonstruktion den Sakralraum beherrscht, half da auch nicht weiter. Andreas war der Bruder des Apostels Petrus und wird vor allem in der Ostkirche, in Byzanz verehrt, wo er eine ähnlich Stellung einnimmt wie Petrus in Rom. Er ist Patron von Russland, Griechenland und Schottland, auch des Ordens vom Goldenen Vlies; durch die europäischen Verbindungen der Habsburger erscheint das Andreaskreuz häufig auf tirolischen Wappen. Die Kirche von Kastelbell gehört zu den wichtigen Sakralbauten, die unter dem strengen, allen religiösen Firlefanz meidenden Bischof Gargitter entstanden sind.
Jetzt stehen wir aber im Kirchenraum mit dem gewaltigen, schrägbalkigen Andreaskreuz, das früher wegen der X-Form als Abkürzung des Namens Christi verehrt wurde. Durch die Oberlichtfenster schauen wir auf den Sonnenberg, der in den Kirchenraum hereingezogen wird. Wir bleiben hängen am vielen Gold, das von den Wänden leuchtet, glänzt... überall Mosaikarbeiten. Im Vergleich zur hier gezeigten Fülle verblassen Aquileia und Ravenna. Aber nicht nur die Wände prunken mit güldenen und farbigen Heiligen, die Mosaikflut erfasst auch den Altar, das Ambo, die Treppen, die Altarstufen und ergießt sich gnadenlos auf die zwölf Stationen und schließlich auf alle Wände. Der Michael Höllrigl, der mit viel Liebe und Augenmaß die strengen Formen aus südländischem Travertin entwickelte (lapis tiburtinus, Stein aus Tivoli, sagt er genüsslich!), hat seit der Verhunzung seines Altars durch billiges Mosaikmaterial die Kirche nicht mehr betreten.
Wir aber, mein Begleiter und ich, wir lassen uns die Wirkung dieses Raumes nicht durch Nebensächliches verderben. Der Raum ist so stark und die Idee des Andreaskreuzes so überzeugend, dass sich für einen Moment der Geist des gestrengen Bischofs Gargitter zu uns gesellt und mit uns zu beten beginnt.
Hans Wielander
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