Ihr Blick geht in die Ferne. Das muss Sehende irritieren und am liebsten würde sie sich bei den Menschen entschuldigen. Aber sie will nicht jedem ihre Geschichte aufdrängen. Normalerweise sagt sie am Ende der ersten Sitzung, dass sie nur sehr eingeschränkt sieht und die Menschen, die ihr auf der Straße oder im Spital begegnen, nicht erkennt. Vertraute Stimmen erkennt sie, aber am liebsten wäre es ihr, wenn die Grüßenden gleich den Namen sagen, damit sie nicht herumrätseln muss. Heute ist sie es gewohnt, so zu leben. Sie kommt gut damit zurecht. Dabei war es nicht immer so. Annemarie besuchte die Lehrerbildungsanstalt in Meran und machte 1974 die Matura. Sie sang beim Schülerchor und in der Freizeit unternahm sie mit ihrem Vater Walter Hell viele Bergwanderungen. Sie wollte nicht in der Grundschule unterrichten, sondern hinaus in die Welt. So ging sie nach Wien, um Biologie zu studieren. Bereits im ersten Studienjahr, Annemarie war 20 Jahre alt, traten innerhalb kurzer Zeit massive Sehstörungen auf. Sie suchte Ärzte auf, aber niemand konnte ihr eine zufriedenstellende Erklärung geben. Falsche Diagnosen wurden gestellt.
Was war die Ursache für den Sehverlust, würde sie das Sehvermögen ganz verlieren? Solche Fragen quälten sie und niemand konnte sie beantworten. Das Studium konnte sie nicht mehr fortführen, eine lange Zeit der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit begann. Es war die schlimmste Zeit in ihrem Leben. Dann hatte sie einen Unfall und musste drei Wochen im Krankenhaus bleiben. Dabei lernte sie ihren ersten Mann kennen. Obwohl sie das Studium wegen der Probleme mit ihren Augen aufgeben musste, begann eine glückliche Zeit. Sie heiratete und verstand sich gut mit ihrem Mann. Nach einigen Jahren wurde er krank und schließlich starb er. In dieser Zeit besuchte ihre jüngere Schwester die Maturaklasse und erlitt, genau wie Annemarie einige Jahre zuvor, massive Einbrüche im Sehvermögen. Kurze Zeit später traf es auch ihre jüngste Schwester. Von welcher Krankheit waren die jungen Frauen befallen? Ihr Vater war zwar stark kurzsichtig, aber niemand in der Familie war erblindet. Ein emeritierter Universitätsprofessor in Wörgl konnte ihr und ihren zwei Schwestern schließlich erklären, welche Krankheit sie hatten: Morbus Stargardt. Das ist eine degenerative Veränderung der Netzhautmitte. Eine sehr seltene, genetisch bedingte Krankheit, bei der die Makula, die Stelle des scharfen Sehens, zerstört wird. 8.000 Betroffene gibt es in Deutschland.
Meistens beginnt die Krankheit im zweiten Lebensjahrzehnt. Beide Elternteile müssen ein defektes Gen (ABCA4-Gen) an ihr Kind weitergeben, damit die Sehstörung auftritt. Bis heute gibt es keine Möglichkeit der Heilung. Das Sehvermögen nimmt immer mehr ab, ein Sehrest bleibt aber erhalten. Bei Annemarie Hell beträgt das Sehvermögen 1/40tel. Dies zu akzeptieren und damit zu leben, war nicht einfach. Man leugnet es und will es nicht wahrhaben. Was sollte sie in dieser Situation tun? Beim Blindenverband riet man ihr Telefonistin oder Physiotherapeutin zu werden. Sie entschied sich für Letzteres. Annemarie war 30 Jahre alt, als sie in Padua das Studium begann. Eigentlich hätte sie Hilfe gebraucht, um ihre Situation aufzuarbeiten. Aber die gab es nicht. Mit der Unterstützung von Studienkollegen lernte sie viele Stunden am Tag. Oft hatte sie das Gefühl, keine Zeit zum Atmen zu haben. Trotzdem schloss sie nach drei Jahren das Studium ab und begann 1989 ihre Arbeit als Physiotherapeutin. In den 90er Jahren lernte sie Bellino Masiero kennen, der seit seiner Geburt stark sehbehindert ist. Seit vielen Jahren leben sie zusammen. Annemarie liest mit dem Lesegerät Zeitschriften und Bücher.
Es geht langsam und ist mühsam. Lieber bestellt sie bei Medibus (der deutschen Mediengemeinschaft für blinde und sehbehinderte Menschen) Hörbücher und hört sich diese an. Sie und ihr Mann machen viele Spaziergänge, besuchen Konzerte und reisen gerne. In den letzten Jahren unternahmen sie Gruppenreisen nach Island, Griechenland und Tibet. Manche Reisen machen sie auch alleine. Dabei suchen sie sich einen Begleiter, müssen sich durchfragen und Hilfe in Anspruch nehmen. Das sind sie gewohnt und damit kommen sie gut zurecht.
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