Der Saumpfad führte über die Val Vau und die Val Mora zum Passo di Fraele (1.934 m MH) in das Hochtal Valle di Fraele, vorbei am Lago delle Scale, über die Torri di Fraele und den Passo delle Scale hinunter nach Premadio am Eingang in die Valdidentro und damit in den Talkessel von Bormio. Dieser alte Übergang ist Teil des alten Kaiserweges (Via imperiale), über den auch der Frankenkönig Karl der Große zur Krönung zum Kaiser am Weihnachtstag 800 durch den Papst Leo III nach Rom gezogen sein soll. Auch das Eisenerz aus der Valle di Fraele wurde über diese Route zu den Schmelzöfen nach Premadio zu Tal gebracht, weshalb der Weg auch den Namen „la via del ferro“ erhielt. Das heute in den Fluten des Stausees von Cancano versunkene Pilgerhospiz San Giacomo di Fraele lag am Jakobsweg nach Santiago di Campostela in Spanien.
Talseits des zweiten Stausees Lago di Cancano liegt in einer Taleintiefung der Natursee Lago delle Scale. Der See hat weder Einlauf noch Abfluss. Er wird ausschließlich vom natürlichen Niederschlag und dem Schmelzwasser des Schnees gespeist. Sein Wasserstand schwankt in Abhängigkeit vom Niederschlagsreichtum des jeweiligen Jahres. Der See ist Privateigentum, aber öffentlich zugänglich und wird mit Fischsetzlingen von Regenbogenforellen und Bachsaiblingen zur Sportfischerei besetzt.
Den Aufstieg vom Lago delle Scale zum Monte Scale am Nord-Ostufer des Sees möchte ich den wanderfreudigen und neugierigen Leserinnen und Lesern als sommerlichen oder herbstlichen Wandertipp in einem vielleicht noch unbekannten Hochtal in erreichbarer Vinschgauer Nachbarschaft empfehlen. Übrigens: Der Weg durch das Hochtal von Fraele war eine wichtige Verbindung zwischen dem Vinschgau, Münstertal, Engadin und Veltlin, auch zu Zeiten als die Herren von Matsch das Veltlin zu ihrem Herrschaftsbereich zählten.
Die Anfahrt
Der Ausgangspunkt der Wanderung ist der hintere Parkplatz am Seeufer des Lago delle Scale. Man erreicht die Örtlichkeit von Bormio über die Staatsstraße in die Valdidentro und zum Foscagno-Pass. Auf den Verkehrsschildern ist Livigno ausgeschildert. Wenige Kilometer nach Bormio erreicht man das Dörf Premadio. Im Ortsteil Fior d´Alpe Turripiano zweigt man rechts ab, folgt den Hinweisschildern Laghi di Cancano und fährt auf asphaltierter Straße von 1.325 Metern Meereshöhe in steigleiterförmig angeordneten Kehren zum Passo delle Scale auf. Der Pass heißt so, weil in Zeiten der Saumwege hölzerne Stufen in den Felsen gehängt waren, um auf- und abzusteigen. Die zwei Torri di Fraele zur Rechten sind großartige Aussichtspunkte über den gesamten Talkessel von Bormio und erleichtern aus der Anhöhe die Orientierung über die drei Täler, die in diesen Kessel des Oberen Veltlins münden: Das Braulio-Tal vom Stilfserjoch, die Valdidentro vom Foscagno-Pass und die Valfurva vom Gavia-Pass. Unmittelbar oberhalb der Torri di Fraele liegt auf 1.931 m MH der Lago delle Scale. Für die ca. 75 km lange Anfahrt vom Mittelvinschgau über das Stilfserjoch zum Lago delle Scale müssen Sie eineinhalb Stunden Autofahrt einkalkulieren.
Die Bergtour zum Monte Scale
Die Tour beginnt am frei benutzbaren Parkplatz am Lago delle Scale. Hier startet der Wandersteig Nr. 197. Der Einstieg führt durch ein artenreiches Bergmahd, dann verläuft der Steige einen längeren Abschnitt durch einen dichten Gürtel von Latschen. Die Legföhren sind Kalkanzeiger und verweisen auf das kalkige Bodensubstrat, das aus der Erosion der Dolomitberge stammt. An einem Sattel, der den Doppelgipfel des Monte Scale teilt, erreicht man zuerst einen Festungsbau und auf der gerölligen Hochfläche einen Grillplatz. Der Schlussanstieg zum Gipfelkreuz auf 2.501 Metern MH ist relativ steil. Als Abstieg kann man den Steig Nr. 197.1 wählen und so eine Ringwanderung zurück zum Lago delle Scale unternehmen. Insgesamt muss man für die Tour mit einer Gehzeit von 3 Stunden und 50 Minuten rechnen. Die horizontale Distanz beträgt ca. 7 km und der Höhenunterschied 529 m (Lago delle Scale 1.325 m, Monte Scale 2.520 m). Vom Gipfel des Monte Scale hat man einen 360°-Rundblick über die Berge und Talmündungen im Talkessel von Bormio.
Am Aufstieg zum Monte Scale hat die Missons-Unterstützergrupe „Mato Grosso“ aus der Valdidentro in Erinnerung an den Entwicklungshelfer Giulio Rocca eine kleine Kapelle errichtet. Die Kapelle ist der Muttergottes, Königin der Märtyrer geweiht. Im heurigen Sommer ist sie anlässlich des 20. Todestages von Giulio Rocca vom Diözesanbischof von Como Mons. Diego Coletti gesegnet worden. Giulio Rocca, ein 1962 geborenes Ortskind der Valdidentro, ist als Dreißigjähriger von Aktivisten der Terrorgruppe Sendero Luminoso in Perù erschossen worden.
Florenreichtum
Die extensiv genutzten und nur mit Rindermist gedüngten oder ungedüngten, einschnittigen Bergmahder um den Lago delle Scale sind florisitisch besonders artenreich. So gedeihen beispielsweise verschiedene Arten von alpinen Wildorchideen wie etwa die kaum 10 cm hohe Grüne Hohlzunge (Coeloglossum viride). Interessant und auffällig ist auch die Echte Mondraute, ein Farn, also eine Sporenpflanze. Bei der Mondraute sind aber die Sporen nicht an der Blattunterseite des Farnwedels angebracht, sondern auf einem eigenen Sporenträger. Die Pflanze hat ein unfruchtbares Blatt, dessen Spreite in zwei bis neun keil- oder mondförmige Abschnitte aufgefiedert und namensgebend für den Vertreter der Rautenfarne ist. Die Sporen als Fortpflanzungsorgane befindet sich hingegen auf dem Sporenträger (Sporangium).
Der geschlossene und breite Krummholzgürtel ist am steilen Schuttkegel an der Auffahrt zum Passo delle Scale und bergseits des Lago delle Scale besonders markant und imposant ausgeprägt. Hier am Passo delle Scale bildet der Latschenwald einen guten Lebensraum für Schneehasen. Aus unseren Monitoring dieses Nagetiers u.a. mit Besenderungen und Kotanalaysen haben wir einen guten Überblick über die Raumnutzung, das Territorium und das Nahrungsspektrum der Schneehasen erhalten. Im Winter bilden die harzreichen Nadeln und die Rinde der Latsche die Überlebensration der Tiere.
Die Torri di Fraele
Die zwei Türme auf rechteckigem Grundriss wurden auf einer Meereshöhe von 1.941 Metern erbaut. Sie sind damit die höchstgelegenen Türme in der Provinz Sondrio. In geschichtlicher Zeit hatten sie die Funktion als Aussichts- und Kontrolltürme am Saumweg. Wie bereits gesagt, stehen sie an einem strategisch gewählten Aussichtspunkt, welcher einen Überblick über den gesamten Bormianer Raum ermöglicht.
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