Das Schwarzweißfoto des jungen dänischen Fotografen Albert Grøndahl wurde als Titelbild zum Thema DAS FREMDE gewählt und es steht auch am Ende des in Berlin erscheinenden Magazins.
Dazwischen gibt es noch viel mehr Nacktes, immer hervorragendes Fotomaterial und 30 auch italienische Textbeiträge auf 120 Seiten.
39NULL ist ein neues Medium und wird vor allem von in Berlin lebenden Landsleuten geschrieben und gestaltet. Thematisch breit gestreut, sehr international, lässt es endlich durchatmen.
Dazwischen - gewissermaßen zur Erholung - eine „Vinschgerische Plauderunterhaltung“ mit Mundartspezialitäten, liebevoll gesammelt und erklärt von Christian Zelger.
Der Beitrag „Lo spaesato“ des Südtiroler Senators Francesco Palermo - er ist zuständig unter anderem für den Schutz von Minderheiten im Europarat - zwingt uns Deutschsprachige dazu, wieder einmal einen italienischen Text zu lesen und mit Sorgfalt zu studieren. Auch das ist eine Präfiguration.
Es geht also von Anregung zu Anregung, von Land zu Land, wobei ich beim Titelbild bleiben möchte. Der dänische Fotograf hat seine Modelle irgendwo in einem sandigen Föhrenwald, zwischen Spree und Skagerrak, fotografiert und ließ sie die Kleider ablegen - aus welchem Grund auch immer. Für mich ergeben sich daraus eine Reihe von historische „Überlegungen“, in denen Nacktheit eine religiöse Qualität darstellt. Als „Adamiten“ wurden bereits im frühen Christentum und dann in der Reformation mehrere christliche Gruppierungen bezeichnet, die angeblich den Zustand der Nacktheit wiederherstellen wollten, wie er bei Adam und Eva vor dem Sündenfall herrschte.
Etwas von diesem Geiste vermitteln die Nacktbilder des Dänen, wobei das Ganze auch an Golgatha denken lässt, an Christus und die gekreuzigten Schacher. Oder an ein Picknick als letztes Abendmahl. Immer wieder haben Künstler diese Zusammenhänge aufgedeckt, gedeutet, auf die Gegenwart bezogen. Schmerzlich, provozierend und auch erlösend. Zu den gewagtesten Darstellungen mit religiösem Hintergrund gehören die Kreuzigungen des belgischen Künstlers Fèlicien Rops (1833-19989), der unter anderen Provokationen auch eine nackte Frau als Gekreuzigte dargestellt hat.
Als „vorausdeutende Darstellung“ wird der Begriff Präfiguration verwendet, in der Theologie ebenso wie bei der Deutung von Kunstwerken, in denen etwas Zukünftiges anklingt. Der dänische Fotograf hat sicherlich nicht an die ärgerlichen Pakteleien der Südtiroler Politikerkaste gedacht; er hat aber ein Bild geschossen, als hätte er Ähnliches erfahren oder geahnt. Weil sich diese Situation überall ergibt, ergeben kann, auch im kleinen Kreis, im kleinen Verein. Überall Amtskleider, Uniformen, Masken. Überall „Fremde“.
Zur Zeit denken wir mit besonderer Sorge an die Krim, an die Ukraine, an das Baltikum, an die maskierten Nicht-Russen, die völkerrechtlich „nackt“ agieren, weil sie keine Hoheitszeichen erkennen lassen.
Das Titelbild von 39NULL ist eine Präfiguration, eine vorausdeutende Darstellung für Menschen, die sich fremd geworden sind, die verzweifelt nach Nähe suchen. Die sich quälen, beschuldigen, anklagen. Ein Vorbild könnte der heilige Sebastian sein, der mit Pfeilen durchschossene Märtyrer. Er ist auch eine in Tirol sehr häufig dargestellte nackte, schöne Männergestalt. Neben Christus am Kreuz und dem linken und rechten Schächer gehören diese Gestalten zu den wenigen erlaubten Aktdarstellungen. Nackt, das ist für viele Christen nur erlaubt im Zusammenhang mit Martyrium.
Nur als solches bewirkt es Erlösung und Auferstehung … ein Ostergedanke vielleicht… jedenfalls eine anregende Präfiguration.
Hans Wielander