Aber der Pfarrer hatte einen Einfall. „Man mießet bo dr Marianna bo dr Haustir ausi und durchn Gartele he, norr vo dr oubr Seit ibr enkrn Soldr bo enk bo dr Haustir innr, do he, durch dr Schtubatir innr und bo dr Schtubakommrtir obr ausi.“ (Man müsste also mit dem Sarg durch Mariannes Stube, zuerst durch die Haustür hinaus und durch den Garten, dann hinein in eure Haustür über euren Balkon, zurück in die Stube und bei der Stubentür wieder hinaus.)
Nach weiterem Auf und Ab, meint der Pfarrer, wäre man dann mit dem Sarg erfolgreich auf dem Kirchplatz angelangt, mit fast ebenem Zugang zum Friedhof.
Die Sprache der Stilfser Schauspieler war so trefflich und wurde so schön „gesungen“, wie das nur die Menschen dieses Dorfes können. Der Saal der Dorfgemeinschaft war mit über 200 Personen bis auf den letzten Platz besetzt.
Das den Stilfsern auf den Leib geschneiderte Erfolgsstück von Toni Bernhart musste mehrmals wiederholt werden. Alles kommt darin vor, Sprachgeschichte, Wirtschaft, Liebesleben, Soziales. Durch die Schilderung des Begräbnisweges wird vieles anschaulich, die verwirrenden Winkelwege, ebenso die ineinander verkeilten Bauten, die Architektur des Haufendorfes und der Stilfser Gehirne.
Was hat die Stilfser wohl bewogen, ihre Häuser so eng auf einem steilen Bergrücken zu bauen? Die Bodenknappheit, sicherlich, jeder Quadratmeter war wertvoll und musste genutzt werden. Der Kinderreichtum zwang viele zum Wegziehen, sie mussten sich als Karrner, als Wanderhändler das Leben verdienen und kehrten meist nur in den Wintermonaten - oft nur im Stall geduldet - ins Dorf zurück. Alles Mögliche wurde hergestellt, erfunden, gehandelt. Auch als Schauspieler, Musiker, Komödianten sind sie herumgezogen. Arbeit in der Schweiz, in Deutschland. Und da nicht mehr „geschmuggelt wird“, wie das Volksstück behauptet, stellt sich natürlich die Frage nach der wirtschaftlichen Gegenwart.
Das Dorf zählt etwa 500 Einwohner, aber es werden immer weniger. Vor allem junge Leute müssen sich auswärts Arbeit suchen. Neubauten werden in bequemeren Lagen errichtet; die sanierten Altbauten dienen häufig dem Fremdenverkehr oder als Zweitwohnungen für die „Auswanderer“. Die Verbundenheit mit dem Dorf bleibt aber erhalten. Zu allen heiligen Zeiten kehren die Stilfser zurück, sammeln sich festlich um einen Familien- oder Ortskern. Das Heimweh schafft neue Ordnungen, wirkt wie ein Magnet auf Eisenspäne.
Mit Eisen, jedenfalls mit Erz und mit Knappen hat vor allem die wirtschaftliche Vergangenheit von Stilfs zu tun. Darüber hat G. K. Pinggera in seinem Buch „Stilfs - Geschichte eines Bergdorfes“ ausführlich berichtet. Neben vielen anderen Aspekten wird die vorgeschichtliche Bedeutung des Ortes behandelt, mit den frühesten Zeugnisse des Bergbaues. Die Blütezeit des Bergsegens, um 1500, war in vielfacher Hinsicht prägend und bewirkte einen Zuzug von Menschen vor allem aus der Schweiz, dem süddeutschen Raum, aber auch aus Italien. Gebraucht wurden Spezialisten im Stollenbau, in der Verhüttung und viel Handwerksbetriebe. So entstand eine vielschichtige, auf verschiedensten Gebieten begabte Gesellschaft.
Die Stilfser können gut lernen, gut schreiben, gut Theater spielen und natürlich gut singen. Aus Stilfs kommen die schönsten Mädchen, sagt der Gianni so nebenbei. Bei seinen Führungen vergleicht er Stilfs mit dem gegenüberliegenden Ganglegg, also mit einer bronzezeitlichen Siedlung; auch dort war Erzabbau wirtschaftlich von Bedeutung. Die Ausgrabungen zeigen die Technik des rätischen Hausbaues, mit der Basis aus Trockenmauern, was auch hier in Ansätzen noch erkenntlich ist. Im Keller alter Häuser münden die Ausgänge von Knappenlöchern.
Der Großteil der Gruben liegt in Richtung Stilfser Alm. Dort wurde bis 1612 nach Baryt und Feldspat geschürft.Wie viele Stollen aber hat es gegeben? Darüber gibt es eigentlich nur Vermutungen, zumal die meisten unkenntlich gemacht wurden, eingestürzt sind oder auch erst jüngst vermauert wurden. Es gibt auch Zahlen über den Umfang der Bergwerksgesellschaft, über die verschiedensten Erze und Mineralien. Damit beschäftigen sich leidenschaftliche Sammler, die ihre Schätze in Sulden, in einem Museum in der Grundschule, zeigen; das Museum (Bar Ilse, Sammler Konrad und Christian Knoll) enthält auch viele Kriegsfunde aus der Ortlerfront.
Bergbau in der weiteren Umgebung hat es bis ins vergangene Jahrhundert gegeben; in Stilfs wurde er um 1805 endgültig aufgelassen. Bauarbeiter stoßen immer wieder auf Knappenlöcher, wobei zwischen Ausschütt- und Einstiegslöchern unterschieden wird. Das Einsteigen war meist ein Einkriechen - so eng und niedrig waren diese Arbeitsplätze; mit Sicherheit mussten dabei auch Kinder eingesetzt werden. Der Aushub, also Erde und Steine, blieb vor dem Stollenmund liegen und wurde, zu Mauern geschichtet, allmählich zur Basis eines primitiven Hauses mit gutem Keller. Darüber wurde ein Holzblockbau errichtet.
Weil sich im Dorfbereich von Altstilfs mehrere Quellen befanden, war der Siedlungsort auch dadurch vorgegeben. Die durchwegs geschickten Handwerker bauten sich also eine eigene, kleine Welt, die liebevoll erweitert wurde. Mit dem Ende des Bergbaues kam die schleichende Armut. Das Dorf segelt wie die Arche Noah, besser gesagt, wie eine Flotte durch die Stürme der Weltwirtschaft.
Aus der Kargheit und Not wächst immer wieder überraschend Schönes, Blumen aus alten Mauern, sieben Dorfbrunnen, restauriert und künstlerisch gestaltet.
Stilfs wurde schon oft tot gesagt, zumal wirtschaftlich. Medizinisch interessant sind immerhin die gentechnischen Untersuchungen, die vor kurzem von Ärzten und Wissenschaftlern der Südtiroler Eurac an Stilfser Altfamilien durchgeführt wurden. Voraussetzung war ein weit zurück verfolgbarer Stammbaum. Als Ergebnis wird eine Anlage zum Gliederzucken genannt, eine mit Parkinson verwandte Störung.
Ist das zu verwundern, wenn Generationen in niedrigen, feuchten und finsteren Knappenlöchern arbeiten mussten? Und was haben sie gefunden? Silberhaltigen Bleiglanz, Kupferkies ... und blauen Malachit.
Theater und Knappenlöcher spielen in Stilfs eine große Rolle. Und die Schwarze Wand, kvurz nach Prad, am Eingang des Suldentales, sichtbar nur für die Stilfser. Wenn Ausgewanderte diese Grenze passieren, dann beginnt Heimat. Sie beginnen zu singen. Wenn das nicht geht, erzählen sie von Abenteuern und Irrfahrten in der weiten Welt.
Und das ist immer auch Gesang.
Hans Wielander