Schlanders erzählt... Märchenherbst

Maerchenherbst24

 
 
Dienstag, 19 November 2013 09:06

Es gibt wohl kein Dorf im Vinschgau, wo Himmel, Volk und Herrschaft so eng ineinander verflochten sind und wo Gier und Profitdenken das kulturelle Sterben derart deutlich sichtbar machen

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Was Fremd sein mit Anders sein zu tun hat und wieweit die Fremden das Anders sein schätzen. Wie das Fremde das Dorf erobert, sich heimlich in die Häuser schleicht und sich unmerklich breitmacht, bis wir uns selbst fremd und nirgends mehr zu Hause fühlen oder wie das Fremde sich anmaßt, Heimat zu ersetzen.

Frieda B. Seissl, wohnhaft in Laas, wirft den Blick einer Fremden auf den Vinschgau  

Ein Dorf eroberst du durch zwischenmenschliche Begegnungen. Ein Dorf ist nicht nur Bleibe oder Unterkunft für Mensch und Tier. Ein Dorf ist mehr. Es geht über das Übliche und Gewöhnliche hinaus, über das Funktionale, Zweckdienliche und Nutzbringende.

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Du erfährst dich als soziales Gemeinwesen in einer Landschaft mit einer langen Tradition - und du wächst an dieser Gemeinschaft. Ein Gebäude erweist sich erst als gut, wenn es alt geworden ist. Erst ein altes Gebäude zeigt sein wahres Gesicht. Bei den Häusern ist es wie bei den Menschen. An Häusern erkennt man wie die Menschen sind, wie sie mit sich selbst und mit anderen umgehen.
Heutige Dörfer haben eher etwas Kümmerliches, Dürftiges an sich. Neubauten kommunizieren nicht mehr untereinander, sie stehen alleine da, isoliert und distanziert. Heutige Dörfer werden für Autos geplant und (um)gebaut - nicht für Fußgänger. Das Gehen und das Miteinander stehen nicht mehr im Mittelpunkt, sondern das Fahren. Je maschinenorientierter die Gemeinschaft, desto mehr leben Menschen aneinander vorbei, desto mehr konzentriert sich alles auf Geschwindigkeit. Siedlungen müssen laut Wohnbauordnung vorgeschriebene Parkplätze und Tiefgaragen aufweisen. Kinderzimmer, Plätze und Gärten sind nicht vorgeschrieben, auch kein Anrecht auf Fußwege oder Bepflanzungen. – „Autogerecht“, sagt man, doch nie menschengerecht, lebensgerecht. Alleen und Hecken zu pflanzen oder zu erhalten erfordert Zivilcourage und Mut. Wer sich dafür einsetzt wird als naiv und welt-fremd betrachtet, als „anders“ eben. Ein Beweis, dass das Fremde ganz nah und mitten unter uns sein kann. Vielleicht gibt es auch deshalb immer weniger Schatten spendende Bäume, weniger Geborgenheit und mehr Lebensangst. Stress und Aggressionen steigen.

Burgeis ist menschengerecht. Burgeis kann man erobern. In Burgeis darfst du ruhig und bedacht die Schritte setzen, still aufmerken, ruhig den Weg ergehen, Schritt für Schritt und dich vorbereiten auf einen anderen Klang. Es lässt dich den Rhythmus spüren und deinen Blick anders werden, wenn dein Gefühl sich ändert und du dich erinnerst, dass die Hoad mächtiger ist als du. Wenn kalte Winde dir durch die Knochen pfeifen und der Schnee meterhoch die Häuser bedeckt, dann schützt dich das Dorf durch die Mulde vor Wind und Wetter, entspannt sich dein Geist beim Anblick dicht liegender Gebäude, erholst du dich in ruhigen Winkeln und Ecken, erfährst du die Ungeraden als Genugtuung in schiefen Bögen und Toren, in unregelmäßigen Steinen. Die Steinmauern zeigen dir, dass hier Menschen wohnen und Tier, dass du dort mit den Urgewalten gehst und nicht dagegen, dass du hier mit der Nacht schläfst und nicht mit dem Licht, dass du nichts bist und doch viel af dor Hoad.

Das Dorf ist im Winter anders als im Sommer. Eisig klarer, unendlich weiter Sternenhimmel. Die Fremden nehmen im Winter zu und bringen Nachrichten von der Welt. Die Einheimischen horchen auf, Neid und Bewunderung auf die Fremden nimmt zu. Es gibt dann immer wieder ein paar Dörfler, die sich die Welt in Form von neumodisch gestalteten Häusern reinholen, die alten Häuser abreißen und ein neues, besseres Bauen. Die alten Häuser verstehen das nicht, ratlos stehen sie da und wissen nicht, was tun.
Jetzt sind sie auf einmal nicht mehr gut genug. Sie haben ausgedient. Da kommen Fremde nach Burgeis und bringen fremde Wörter, fremde Güter und schnell vergisst man, wer man ist und schwelgt in fremden Gefühlen und genießt das Andere und baut ein Haus, ganz neu, ganz anders, fremd eben, ohne Bezug zum Land, zur Landschaft, denn sich selbst ertragen ist manchmal schwer. Fremde bringen Abwechslung in den Alltag und Abwechslung in das Dorfleben und - sie bringen Geld.

Die alten Hütten aber halten stand (sofern man sie nicht abreißt), bestehen über den Tod hinaus, unsterblich wie das Baumaterial Natur - sie stehen immer noch, beweisen, bezeugen und entfesseln Erinnerungen, gute oder unangenehme und sind Teil unserer ganz persönlichen Geschichte aber auch einer vielseitig verbindenden Heimatgeschichte.  
Langsam und schleichend werden die alten Hütten gegen gut isolierte, kurzlebige ausgetauscht. Langsam nimmt der Kunststoff- und Styropormüll zu, langsam und schleichend, wie eine unsichtbare Gefahr, die eine Zeit lang woanders verlagert wird und mit der nächsten Generation bei der Hintertür wieder reinkommt. Kaum merkbar verschwinden Hof und Tier, Hecken, Bäume und Natur, wie wir sie kennen, wie es uns vertraut war. Kaum merkbar verschwinden überraschende, ungewohnte Aus- und Einblicke und ungewöhnliche Ansichten. Dieses Spiel der Proportionen berührt tief, ist echt und hinterlässt Spuren in uns allen. So sterben Geschichten von Menschen, von Gebäuden und dem wirtschaftlichen und sozialen Zusammenleben in einer Landschaft mit einer langen Tradition.

So verschwindet am Land die Erinnerung und mit ihr die Geschichte, in der Stadt hingegen, wird sie systematisch bewahrt und bearbeitet. Das Pech der einen ist das Glück der anderen. Alles Geschichtliche wird dort gepflegt, erkundet und fast zwanghaft erörtert, gewissenhaft museal. Am Land hingegen ist der tägliche Umgang mit Althergebrachtem eine Qual für die Menschen, am Land ist die Erinnerung an das alte Leben mit Sorgen, Müh und Plag verbunden. Alte leerstehende Häuser beherbergen weiterhin die Geschichten jener, die einst darin gewohnt haben. Selbst wenn die Häuser verfallen, dem Strukturwandel erliegen, die Geschichten bleiben dort, wo das Leben einst war. Trotzdem entstehen immer mehr neue Häuser, neue tadellose Räume und mit ihnen eine neue keimfreie, fleckenlose Geschichtsschreibung, die scheinbar ohne die alte auskommt, ohne ihre Wurzeln und ihre Vorfahren. Doch wen interessiert ein geschichtsloses Land? Wie werden sich unsere Kinder verhalten müssen, wenn wir ihnen alles nehmen, weil wir nur auf schnellen Profit schauen? Die Touristen werden angesichts der neuen (Baumarkt)Häuser sagen: „Das haben wir auch!“
 
Das Stehen- und Verkommen lassen alter Hütten sind Abrechnung, Belastung, Vergeltung dem eigenen Schicksal gegenüber und das Abreißen eine scheinbare Befriedigung. Wir lassen die Häuser verfallen, schauen zu, wie sie sterben, tun nichts, halten uns heraus, sind finanziell überfordert oder gelähmt durch Streitereien oder Geiz, das nicht Hergeben wollen zum Wohl eines anderen oder der Gemeinschaft.

Bald wird es das Dorf als Dorfkörper, als Verschmelzung von Höfen und Wirtschaftsgebäuden für Tier und Mensch, als Geflecht dicht ineinander verwobener Häuser, nicht mehr geben. Es wird keine Dorfbewohner mehr geben, nur mehr Hausbesitzer aus naturbefreitem Sondermüll. Das Dorf verschwindet und mit ihm der Sinn fürs Heim, die Steinmauern verschwinden und mit ihnen die Qualität für die Handarbeit. Dafür gibt es neue Werte, moderne und zeitgemäße. Wirtschaftskräfte stellen aus modernen Kunststoffmaterialien scheinbar Besseres her, Resistenteres, das aus der Fremde stammt, aus dem Ausland und das auch, dank der technisch aufwendigen Errungenschaften schnell und scheinbar problemlos zu uns transportiert wird. Doch die Frage bleibt: Warum kommen die Touristen zu uns? Finden die Fremden die alten Hütten attraktiv oder wegen der Handwerkszone, die von der Straßenseite das ganze Dorf verdeckt und die Dorflandschaft beherrscht?

Heimlich verschwindet Heimat, unheimlich gut gelingt das. Wir bauen diese Heimatlosigkeit in unsere neuen Heime gleich mit ein. Ahnungslos und ignorant können wir diesem Zustand nichts entgegenhalten, weil wir unsere Erinnerungen, unsere Sehnsüchte im Namen von Geborgenheit, Familie und Heimat im Sondermüll begraben. Das Fremde hat uns erobert, hat sich heimlich ins Haus geschlichen und sich unmerklich breitgemacht und jetzt sind wir nirgends mehr zu Hause.

Warum dürfen die alten Dörfer, die leer stehenden Häuser, nicht sterben? Lassen wir sie doch einfach verfallen! Allerorts gibt es lahmgelegte, alte Hütten. Es ist eben ein Zustand, ein Gefühlszustand, eine Seelenlage. Mitten in den Dörfern existiert eine depressive Bewegungslosigkeit, während sie außer Orts, peripher bauen und leben. Doch es ist eben anders als sterben, es ist eher ein Stillstand, ein Zuschauen, eine Pause.

Vielleicht liegt in dieser Zäsur ein uraltes kollektives Grundwissen, ein Erahnen, dass menschliches Glück, menschliche Reife nur dann möglich sind, wenn jeder sich zu sich selbst bekennt, das Eigene schätzt und etwas für den Gewinn einer höheren Ordnung beiträgt, für die Erhaltung des Dorfkerns und der Dorfgemeinschaft, zum Beispiel. Gott sei Dank, hat die Politik darauf reagiert und sich gerüstet und schüttet nun ihre Förderungen über diejenigen aus, die aus ihrer Lähmung erwachen und sich ihres Erbes besinnen und so ganz nebenbei auch noch die Wirtschaft zum Florieren bringen, die befremdlichen Leerstände wieder zur Heimat werden lassen und alles ist wieder gut ...

 


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