Ein philosophisch-geographisch-ästhetisch-pädagogisch-psychologisch-theologisch-feministischer Beitrag zur Staumauer. Die schönste und wichtigste Stauung überhaupt ist die Milchstauung in den Brüsten einer Frau. Zum „feministischen“ Aspekt frage ich eine junge Mutter, wie das so wäre mit der Milch in den Brüsten. Dazu die freudige Antwort: „Beim Milchstau denke ich persönlich zwar an die übervollen, prall gefüllten Riesendinger zwei Tage nach der Geburt meines ersten Sohnes – ewig gespeicherter Eindruck. Und der Lauser hat damals alles leer getrunken, immer wieder, 10 Monate lang, eine wunderbare Erfahrung, unbeschreiblich göttlich.“
Im friedlich trinkenden Säugling wird Rundes, auch Weiches, Warmes, Nährendes, in sich Ruhendes zum Urerlebnis. Hier entstehen bereits wichtige Prägungen für das Formdenken und den Schönheitssinn und eine ganze Reihe von Begabungen. Aber auch das Hinterfragen, das fühlende Nachdenken über Angst, Sorge, über Geborgenheit und den Ursprung dieser Himmelsgaben. All das staut sich in der „Michstraße“; das ist unsere früheste Himmelserfahrung.
Auch die heftige, vor allem geschlechtliche Liebe entsteht durch Stauung. Mit Ursprung im Männerleib. Mit dem Zölibat als Schleusentor für Geistliche. Die halbe Weltgeschichte wird von solchen unkontrollierten Stauungen gelenkt, angetrieben, irregeführt. Nach rauschhafter Hingabe folgen Ausbruch, Verwüstung und Leeregefühl.
Ähnliches gilt auch für ausbrechende Stauseen. Eine Person aus Naturns hat sich weit in ein abgelegenes Seitental zurückgezogen, aus Angst, Stauseen aus dem Vinschgau würden früher oder später ausbrechen und das Burggrafenamt verwüsten. Diese Urangst vor einem Tiroler Tsunami wird immer wieder genährt durch Katastrophen von ausbrechenden oder überschwappenden Stauseen. Dazu muss freilich ergänzt werden, dass es, unbeeinflusst von Menschen, schon immer Überschwemmungen gegeben hat. So auch in Meran. Früher waren es die wiederholten Ausbrüche des Passeirer Kummersees. Stauseen im Ultental und an vielen anderen Orten scheinen immer öfter Schwierigkeiten zu machen: Permafrostböden setzen sich, bedingt durch die Klimaerwärmung, überall in Bewegung.
Die Folgen solcher Bewegungen können Kindern schon sehr früh bewusst gemacht werden, so etwa beim Sand- und Wasserspiel. Als es noch frei gestaltbare Erde auf den Straßen gab oder im unbebauten Grund, zeigte sich schon deutlich der erwachende Ingenieurtrieb. Nicht nur Burgen wurden gebaut oder Höhlen, auch Dämme, Stauseen, Wasserleitungen. Und schon konnten spielerisch alle Probleme der Wasserstauung erfühlt werden: Aufstauen, Absinken, Auslaugen, das sich Vollsaugen. Pädagogische Einführung in die technische Welt.
Wenn dann nach der Spielzeit aufgeräumt werden muss, dann wird wirklich „aufgeräumt“, so wie der liebe Gott mit der Sintflut! Die Dämme werden zerstört, Wasser überflutet alles, Häuser, Puppen und Tiere kollern durcheinander. Endlich geschieht Gerechtigkeit! Weil die Menschen doch so böse sind und weil alles irgendwie mit Maßlosigkeit und Übermut zu tun hat. Der sand- und staudammspielende Mensch lebt schon früh den Zerstörungsrausch aus; das erspart ihm sexuelle Perversionen. Aufbau und Zerstörung, lawinenartige Lahnstriche, geformt wie Kunstwerke, poliert wie aus glattem Marmor. Vielleicht erkennt der junge Mensch auch seine Verantwortung gegenüber der Natur.
Natürlich entsteht durch Stauung auch anderes: das Gewissen, die Sünde mit dazugehöriger Beichte, die Seelenstauung - vielleicht entstehen auch die großen Kulturen durch Stauung.
Hier wäre noch das kleine Papierschiff im Stausee zu erwähnen. Es ist das Totenschiff, das wir von den Ägyptern kennen. Es geleitet uns ins Jenseits nach unserem Ende. Aber morgen gibt es ein Weiterspielen.
Tod und Stau, Tod als Staumauer zum Jenseits. Alles, was wir im Leben gemacht haben, liegt auf der einen Seite; auf der anderen zählen nur mehr die guten Werke. Der Tod als Staumauer ist besonders einprägend als Todeskampf. Alles löst sich, überflutet wird die Erinnerung, friedliche und tröstliche Spuren schaffen Erlösung.
Über den „feministischen“ Aspekt habe ich bereits geschrieben, auch über den ästhetischen, pädagogischen, psychologischen - bleibt der theologische. Also der Stau als Ursprung des Gottesgedankens. Wir denken alle möglichen Dinge bis zum Ende, oder untersuchen sie vom Anfang her. Überall kommen wir zu Ungeklärtem, Geheimnisvollem, über Sich-hinaus-Weisendem. Woher kommt die Milch?
Überall wirkt in uns der früh angelegte Drang nach Erforschung der Ursache, nach dem Urquell, nach dem Urwasser. Und damit sind wir eigentlich bei unseren Bauern. Sie müssen das Wasser auf die Felder lenken, „Waale“, also Kanäle bauen und „Tschötten“ errichten. Das sind unsere ältesten Speicheranlagen. Sie enthalten wertvolles Wasser, nicht zu kalt, weil es rasten und viel Sonne aufnehmen konnte. Das Wasser dieser Teiche, die sich meist etwas höher oberhalb des Wohnhauses befinden, dient auch zum Tränken der Tiere, zum Bewässern der Gärten und zum Löschen eines Schadenfeuers. Zwischen den Steinen der Staumauer wachsen allerhand Gräser und Blumen, die hier Wärme und Nahrung erhalten. Die kunstvoll aus Trockenmauern gefügten Tschötten werden mit Lehm abgedichtet, sind rund wie bergende Schalen. Wie die Brüste einer Frau.
Hans Wielander