Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Medardus, 8. Juni 2024
Am 14. Mai dieses Jahres sollte die 16. Etappe der heurigen Italien-Rad-rundfahrt von Livigno über das Stilfserjoch nach Wolkenstein in Gröden führen. Wegen der hohen Schneemengen des vergangenen Winters und der Gefahr des Abganges von Schneebrettern konnte der Schnee nicht geräumt und die Straße über die Passhöhe nicht freigegeben werden. Auch die Ausweichroute über den Umbrailpass und das Münstertal musste wegen Kälte, Schnee und Regen am Tag der Veranstaltung gestrichen werden. Die Etappe wurde verkürzt und nach kurzfristiger Entscheidung der Rennleitung überraschend an der Benzintankstelle in Eyrs gestartet.
Mythos Giro
Der Giro d´ Italia der Radfahrer wird seit 1909 ausgetragen. Im Ersten Weltkrieg ist er von 1915 bis 1918, im Zweiten von 1941-1945 ausgefallen. In seiner Geschichte hat bisher neunmal eine Etaappe über das Stilfserjoch geführt. Dreimal (1965, 1972 und 1975) war die Passhöhe auf 2.576 Metern Etappenziel. In italienischen Radsportkreisen hat das Stilfserjoch den Beinamen „Cima Coppi“ erhalten, so mitreißend und denkwürdig waren die sportlichen Leistungen der italienischen Radsportlegende Fausto Coppi (1919-1960).
Die Pferdekutschenzeit
Lange bevor die Italien-Rad-rundfahrt das Stilfserjoch erreichte und lange bevor erste Autos den Pass bezwangen, war fast hundert Jahre Kutschenfahrt mit Pferdestärken angesagt. Die Straße war in Rekordzeit nach nur fünf Jahren Bauen von 1820 bis 1825 auf beiden Rampen vom Veltlin und vom Vinschgau gebaut worden. Carlo Donegani aus Brescia war der kongeniale Projektant und Bauleiter gewesen.
Erst 1886 meldete der deutsche Ingenieur Carl Benz (1844-1929) aus Mannheim ein „Fahrzeug mit Gasmotorenantrieb“ zum Patent an. Es war das erste Automobil mit Benzinmotor. Stephan Gander schreibt 2021 in seiner Recherche, dass 1921 erstmals wieder, nach der Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg, die „Alpenfahrt“ für Autos über die höchsten Pässe der Alpen führte. Von Mailand bis Triest und zurück nach Mailand mussten insgesamt 2.306 Kilometer in nur fünf Etappen bewältigt werden. Unter den dreißig Rennfahrern der Auflage von 1921 waren von den Italienern Enzo Ferrari und Antonio Ascari dabei, als auch das Stilfserjoch bezwungen wurde.
Vor der „Auto-Zeit“ wurde auf der Stilfserjoch-Straße seit ihrer Eröffnung 1825 fast 100 Jahre die Kutschenfahrt mit Pferden geboten. Täglich fuhr die Postkutsche von Spondinig nach Worms (Bormio) und zurück. Start um 07.00 Uhr beim Posthotel in Spondinig, Rückkehr aus Bormio zum Abfahrtspunkt um 19.00 Uhr abends. Sommers wie winters! Im Winter auf Schlittenkufen anstelle der Räder. Fünfmal auf jeder Fahrt mussten die Pferde gewechselt werden: Auf der Franzenshöhe, auf der Ferdinandshöhe (so hieß die Passhöhe damals), in Bormio, auf dem Rückweg wieder am Pass und auf der Franzenshöhe. Jährlich wurden für den Betrieb der Kutsche von der Betreiberfamilie Peer vom Posthotel Spondinig 60-70 Pferde aus der ungarischen Puszta gekauft. In Spondinig waren alle Berufe angesiedelt, die es zum Betrieb der Kutsche brauchte: Hufschmiede, Rädermacher, Sattler u.a.
Beschreibungen und Darstellungen
Viele Autoren haben zur Straße über das Stilfserjoch recherchiert und publiziert. Ich nenne stellvertretend Wolfgang Jochberger, Gerd Klaus Pinggera, Gottfried Tappeiner, Sebastian Marseiler, Stefano Zazzi und Cristina Pedrana. Der monumentalen Monografie von Arthur Gfrei „Die Stilfserjoch Straße. Wie das Technikwunder in den 1820er-Jahren in Rekordzeit gebaut wurde“ (2023 bei Athesiabuch Bozen erschienen) gebührt eine besondere Erwähnung.
Bevor die Glasplatten-Fotografie neue Abbildungsmöglichkeiten eröffnete, waren Zeichner, Maler und Illustratoren die Konservierer von Momenten der Wirklichkeit. Einer der Zeichner, der auch Ausschnitte der Landschaften an der Straße zum Stilfserjoch festhielt, war der Schweizer J.J. Meyer. 1831, wenige Jahre nach der Eröffnung der Passstraße, wurden in Zürich seine Zeichnungen und Stiche der Landschaften zwischen Glurns und dem Comosee veröffentlicht. Die Bauunternehmer-Familie Quadrio Curzio, u.a. Betreiber der Thermalbäder „Bagni vecchi“ in Bormio, hat das wertvolle zeithistorische Dokument Meyers in dem von ihr herausgegebenen Buch „La strada dello Stelvio nelle immagini disegnate e incise di J.J. Meyer“ 1992 nachdrucken lassen und veröffentlicht. Ein paar dieser Zeichnungen und Stiche aus der genannten Publikation zeigt die heutige Doppelseite.