Studie - Ende der 1980er Jahre entdeckte das Landesdenkmalamt auf dem frühmittelalterlichen Friedhof von St. Stephan bei Burgeis menschliche Überreste. Aus archäologischer Sicht warfen die Grabbeigaben und Knochenreste vor allem zwei Fragen auf: Waren die auf dem Friedhof Bestatteten unterschiedlicher Herkunft? Und waren im selben Grab gefundene Individuen miteinander verwandt? Fast vierzig Jahre nach dem Fund liefern anthropologische und genetische Analysen aus den Labors von Eurac Research nun Antworten und geben Einblick in die Migrationsströme und die soziale Organisation des frühen Mittelalters.
Die Überreste, die das Forschungsteam von Eurac Research analysiert hat, stammen aus Gräbern in und außerhalb der Kirche. Die Grabbeigaben in einem Grab nah am Altar – Teile eines Gürtels – deuten auf einen Mann einer anderen Kultur und möglicherweise einer anderen Herkunft hin. Dass in diesem Grab Nr. 2 mehrere Menschen gefunden wurden, lässt auf ein Familiengrab schließen. Ein weiteres Gürtelelement wurde später im Grab Nr. 3 gefunden, das die Überreste eines anderen Mannes enthielt.
Aus archäologischen Daten geht hervor, dass das Ende des Römischen Reiches im Frühmittelalter die Zuwanderung von Menschen aus dem Norden, Westen und Osten begünstigte, weshalb sich die Archäologen fragen, ob die in Burgeis bestatteten Menschen möglicherweise ursprünglich aus verschiedenen Gegenden stammen. Könnten die Gürtelteile mit germanischen Verzierungen darauf hindeuten, dass in dem Gebiet auch Menschen anderer Herkunft lebten, oder sind sie nur ein Beweis dafür, dass die einheimische Bevölkerung mit anderen Völkern in Kontakt gekommen war und deren kulturelle Bräuche übernommen hatte?
Wir waren überrascht, eine derartig große genetische Vielfalt in einem kleinen Bergfriedhof zu entdecken
Valentina Coia
„Die genetische Analyse gibt keine endgültigen Antworten auf all diese Fragen, aber sie ist eine große Hilfe, weil wir durch sie Informationen erhalten, die archäologische Untersuchungen allein nicht hätten liefern können“, erklärt Valentina Coia, Biologin von Eurac Research. Die paläogenomischen Analysen, die an 21 auf dem Friedhof bestatteten Individuen durchgeführt wurden, haben eine ausgeprägte Heterogenität auf genomischer Ebene gezeigt, aber auch eine genetische Hauptkomponente, die sich nach Südeuropa und insbesondere nach Mittelitalien zurückverfolgen lässt. Dieser Befund deutet nicht auf die Anwesenheit von „Migranten“ hin, sondern auf eine genetische Vermischung mit Menschen unterschiedlicher Herkunft. „Teilweise haben wir dieses Ergebnis erwartet, da europäische Individuen aus dieser Zeit im Allgemeinen von komplexen genetischen Vermischungen zeugen, aber wir waren doch überrascht, eine derartig große genetische Vielfalt in einem kleinen Bergfriedhof zu entdecken. Analysen, die wir zuvor an frühmittelalterlichen Proben aus der ganzen Provinz durchgeführt hatten, hatten nämlich auf eine geringere Mobilität und größere Isolation im Vinschgau hingedeutet, verglichen mit anderen Tälern, wie z. B. dem Eisack- oder Etschtal“, erklärt Coia.
Die Studie gibt uns Aufschluss über die damalige Sozialstruktur in diesem Gebiet
Alice Paladin
Die zweite Frage von wissenschaftlichem Interesse betrifft die Verwandtschaftsbeziehung zwischen den Individuen, deren Überreste auf dem Friedhof gefundenen wurden, insbesondere zwischen jenen aus dem Grab Nr. 2. Waren sie, wie von den Archäologen vermutet, Mitglieder einer Familie? Die Nähe zum Altar, die Grabbeigaben und die Art der Bestattung ließen darauf schließen, dass das Grab einer Familie mit hohem sozialen Status gehörte. „In Grab Nr. 2 befanden sich sowohl vollständige Skelette als auch Schädelreste und vereinzelte Knochen“, erklärt die Bioarchäologin Alice Paladin. „Bei unserer Untersuchung haben wir festgestellt, dass die Überreste in Grab Nr. 2 von mindestens 13 Individuen stammen, von denen die meisten genetisch miteinander verwandt waren. So konnten wir beispielsweise einen Vater und einen Sohn nachweisen. Allerdings bestand nicht zwischen allen eine biologische Verwandtschaftsbeziehung.“ Neben dem vermeintlichen Sohn ist zum Beispiel eine Frau begraben, zu der keine biologische Verwandtschaft besteht und deren Gene ein hohes Maß an Vermischung mit nordeuropäischen Gruppen zeigen. „Diese Ergebnisse deuten auf eine mögliche Familia hin, das heißt, eine Gruppe, in der nicht nur die biologischen Bindungen zwischen Individuen zählten, sondern auch Beziehungen, die über die Verwandtschaft hinausgingen. Die Studie gibt uns also Aufschluss über die damalige Sozialstruktur in diesem Gebiet“, fügt Paladin hinzu.
„Indem wir anthropologische und genetische Analysen mit den zur Verfügung stehenden archäologischen Daten kombiniert haben, konnten wir ein wenig Klarheit schaffen; wir verstehen jetzt, dass der kulturelle Austausch, der zu jener Zeit in dem Gebiet stattfand, von komplexen Prozessen der genetischen Vermischung begleitet wurde“, schlussfolgern die leitenden Forscherinnen der Studie, die in der Zeitschrift iScience veröffentlicht wurde.