Benjamin Stocker - Das verheerende Zugunglück im April 2010 zwischen Latsch und Kastelbell hat das junge Paar Benjamin Stocker und Lisa Maria Thöni eng zusammengeschweißt. Beide haben beklemmende Stunden erlebt, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Benjamin war stundenlang im Unglückzug gefangen, während Lisa verzweifelt auf ein Lebenszeichen von ihm wartete.
von Magdalena Dietl Sapelza
Am Montag, 12 April 2010, beginnt der Tag etwas anders als sonst. Benni verpasst um zwanzig Minuten nach sieben den Zug in Mals, der ihn nach Bozen zur Gewerbeoberschulen bringen soll, wo er die fünfte Klasse besucht. Zusammen mit Lisa macht er sich in Richtung Bahnhof auf, um den Zug um zwanzig nach acht rechtzeitig zu erreichen. Lisas Ziel ist die LESO. Benni steigt in das vordere Zugabteil, setzt sich auf den Fensterplatz mit dem Rücken zur Führerkabine und schläft sofort ein. Der Maturaball vom Samstag hat seine Nachwirkungen. Um ihn herum nimmt er nichts mehr wahr. Er bemerkt auch nicht, dass sich in Latsch ein älterer Mann daneben hinsetzt. Doch dann weckt ihn abrupt ein ohrenbetäubender Knall. Es ist stockfinster. Seine Ohren sausen. Benommen schießen ihm Gedanken durch den Kopf: „Do steat gwiss obr a Auto af an Bohnübergong“. Bald merkt er, dass er nach vorne gebeugt, eingeklemmt und gefangen da sitzt, über ihm Teile der Fahrerkabine. Nur seine rechte Hand kann er leicht bewegen. Die klebrige braune Masse um ihn herum bemerkt er nicht. „I hon koa Panik kopp unt koan Wea“, betont sich. Er spürt seine Beine nicht, die im Lehm stecken.Der Schock hat ihn wohl sofort in seinen Schutz genommen. In der Ferne hört er schreien, weinen, winseln, kann das Ganze nicht zuordnen. „I bin do gsessn wia af a Insel“, beschreibt er. Er verliert das Gefühl für Zeit und Raum, hört in der Ferne Sirenen und Stimmen und ist zuversichtlich, dass er bald befreit sein würde.
Lisa bekommt in der Schulklasse eine Mitteilung, dass der „Halbneuer Zug“ entgleist ist. Benni sitzt drin, das weiß sie. Sofort versucht sie ihn zu erreichen, doch ohne Erfolg. Mitschülerinnen schalten das Radio ein. Von mehreren Toten ist die Rede. Das zieht ihr fast den Boden unter den Füßen weg. Die Lehrerin gibt ihr frei und sie eilt aufgelöst zu ihrem Vater. Es ist gegen elf Uhr. Weinend ruft sie Bennis Mutter an, die erst jetzt erfährt, dass ihr Sohn im Unglückszug ist. „Dem Benni geats guat, deis gspür i –hot di Mama gsogg“, erinnert sich Lisa. Sie klammert sich an diese Worte. Bennis Vater kann erst später erreicht werden. Lisa sucht nach Informationen, fragt in der Notrufzentrale nach. Doch umsonst. Mit Bennis Mutter fährt sie zum Unglücksort, dann zum Krankenhaus. Benni bleibt verschwunden. Ein zermürbendes Warten beginnt.
Die Bergungsarbeiten an der Unglücksstelle laufen seit Stunden auf Hochtouren. Die Zahl der Toten und Verletzten steigt.
Benni befindet sich noch immer in der misslichen Lage. Er ruft um Hilfe, hat großen Durst. Dann erreichen ihn die Worte: „Do isch jo aa nou oaner“. Die Feuerwehrmänner arbeiten sich heran und beginnen vorsichtig den Platz neben ihm freizuschaufeln. Benni sieht den toten alten Mann und realisiert, dass dieser ihn mit seinem Körper vor den Schlammmassen geschützt hat. Gegen 12.00 Uhr wird Benni schließlich als Letzter befreit und sofort ärztlich versorgt. Lisa und die Eltern erreicht kurz darauf die erlösende Nachricht, dass Benni lebt. Seine Beine, vor allem das linke, haben unter der stundenlangen mangelnden Blutzufuhr arg gelitten. Die Ärzte im Bozner Krankenhaus schließen eine Amputation nicht aus. Nach einer elfstündigen Operation wacht Benni in der Intensivstation auf. Seine Beine sind dank gelungener Gefäßtransplantation gerettet. Lisa und seine Mama stehen vor ihm, später kommt der Vater dazu. Alle sind überglücklich. Benni verlangt sofort nach einer Zeitung. Er erfährt von der ganzen Tragweite des Unglückes, von den neun Toten und ihm wird bewusst, welches Glück er gehabt hat.
Nach weiteren Operationen wird er am 10. Juni aus dem Krankenhaus entlassen. Trotz der Fehlstunden schaffte er die Matura.
Benni hat das tragische Ereignis zusammen mit Lisa und seiner Familie gut aufgearbeitet. Alpträume plagen ihn keine und er fährt auch wieder Zug. „I hon in mei Insl eigatla weni mitkriagt unt bin olm positiv ingstellt gweesn“, sagt er. „Für meine Leit isch olz viel schlimmer gweesn.“