Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Martin von Tours, 11. November 2023
Der Winter ist im kontinentalen Klima der nördlichen Breiten und der Gebirge für das Überleben von Tier- und Pflanzenarten die selektierende Jahreszeit. Im Laufe der Evolution haben die verschiedenen Arten unterschiedliche Anpassungsstrategien entwickelt. Dem Winter ausweichen oder dem Winter trotzen sind nur zwei Überwinterungsstrategien bei der Wirbeltierklasse der Vögel. Ausweichen heißt bei den Vögeln Abfliegen in wärmere Klimazonen im Mittelmeerraum diesseits und jenseits des Meeres, aber auch bis in das subsaharianische Afrika. Zu den Zugvögeln gehören unter den kleinen Vogelarten vor allem die Insektenfresser. Ihnen fehlt bei uns im Winter die Nahrungsbasis, weil die Insekten wechselwarme Sommertiere sind. Neben dem Vogelzug als saisonales Auswandern gibt es aber noch andere Überlebensstrategien, wie z.B. die Umstellung der Nahrung von Insekten auf fett- und ölhaltige Samen, wie es etwa die Meisen praktizieren. Ein interessantes Winterverhalten hat auch der Buchfink: Die Weibchen überwintern im Süden, die Männchen bleiben bei uns. Der lateinisch-wissenschaftliche Name Fringilla coelebs deutet dieses Verhalten an: „coelebs“ bedeutet „ledig“: die Buchfinken-Männchen sind im Winter Singles.
Neben den horizontalen, hunderte bis tausende Kilometer langen Zugrouten vom Norden in den Süden und vom Osten in den Westen gibt es auch vertikale Wanderungen von den Bergen in die Talsohle. Solche Tageseinflüge praktizieren etwa die Alpendohlen (Pyrrhocorax graculus), wenn sie tagsüber im Schwarm zur Futtersuche in den Talboden einfallen, aber jeden Tag abends wieder ihre angestammten Schlafplätze im Gebirge aufsuchen.
Nur in Jahren mit Futtermangel in den nordischen Nadelwäldern fallen etwa Bergfinken (Fringilla montifringilla) oder Seidenschwänze (Bombycilla garrulus) bei uns ein. Wegen der zuweilen großen Anzahl von Vögeln spricht man Invasionen.
Sehr interessant ist der Karmingimpel (Carpodacus erythrinus). Er ist ein Neuankömmling in Südtirol. Als ursprünglich ein himalaianisches Faunenelement aus den hohen Bergen Asiens überwintert er am indischen Subkontinent. Nach der Erweiterung seines Ausbreitungsareals in den Westen hat er die gewöhnte Zugroute beibehalten: Er fliegt aus Europa zur Überwinterung nicht nach Afrika im Süden, sondern nach Asien im Osten. Der Arbeitsgemeinschaft für Vogelkunde und Vogelschutz wurden vom Karmingimpel im Jahr 2021 nur sechs und im Jahr 2022 drei Beobachtungen aus Südtirol gemeldet. Er ist somit ein noch sehr seltenes Kleinod der Vogelfauna Südtirols. Gesicherte Brutbeobachtungen dieser Vogelart gibt es bis jetzt (Stand 2022) nur im Obervinschgau.
Nicht alle Insektenfresser unter den Vögeln sind aber Zugvögel: Die Wasseramsel (Cinclus cinclus) überwintert an eiskalten Gebirgsbächen und taucht mit ihrem wasserundurchlässigen Gefieder ins Wasser, um unter Steinen am Gewässergrund nach Fliegenlarven zu suchen. Dabei ist die Wasseramsel auch im Winter territorial und verteidigt ihren Bachabschnitt gegen arteigene Nahrungskonkurrenten.
Das Wintergoldhähnchen ist ebenfalls ein Insektenfresser. Dieser Winzling ist als kleinster Vogel Europas kleiner als der Zaunkönig und wiegt nur wenige Gramm. Er verlässt in der kalten Jahreszeit aber nur den skandinavischen Norden als Teil seines Verbreitungs-areales, überwintert bei uns in den Alpen aber als Standvogel. Dabei verbringt das Wintergoldhähnchen 90 % seiner Tagesaktivität bei der Nahrungssuche zwischen den Zweigen von Nadelbäumen.
Umgekehrt gibt es unter den Samenfressern aber auch einzelne Arten, die nicht Stand-, sondern Zugvögel sind. Ein Beispiel für einen samenfressenden Zugvogel ist der Girlitz (Serinus serinus).
Langstreckenzieher wie der Kuckuck (Cuculus canorus), der in Afrika südlich der Sahara überwintert, sind Spätheimkehrer erst im Mai. Kurzstreckenzieher wie die Bachstelze (Motacilla alba) sind Frühheimkehrer.