von Maria Raffeiner
Neun Mal ging der Franz-Tumler-Literaturpreis (FTLP) bereits an eine:n Schriftsteller:in. 45 Romandebüts waren insgesamt schon nominiert, neun von ihnen wurden ausgezeichnet. Mindestens neun Mal wurde Laas vorübergehend zum Zentrum der deutschsprachigen Erzählkunst. Am 22. September 2023 erhielt die Schweizer Autorin und Sprachphilosophin Tine Melzer den Preis, er umfasst 8.000 Euro und einen Schreibaufenthalt in Laas. Ihr Werk „Alpha Bravo Charlie“ hatte die Juror:innen nachdrücklich überzeugen können. Es handelt von einem schrulligen Ich-Erzähler namens Johann Trost, der nach seiner Pensionierung als Kurzstreckenpilot seine Welt neu ordnen möchte. Der nach innen gekehrte Einzelgänger bastelt am Küchentisch an einer Modelllandschaft, an deren Rändern er allein, aber nicht einsam ist. Verlässt er die Wohnung, beobachtet er gnadenlos. Konstant zählt, sortiert und buchstabiert er.
Manfred Papst, der bekannte Publizist aus der Schweiz, hatte Tine Melzer als Juror für den Laaser Literaturwettbewerb nominiert. Nach ihrer Lesung hielt er ein Plädoyer für den Roman, der auf knapp 125 Seiten einen Tag im Leben des Johann Trost erzählt. Papst bezeichnete die literarische Figur als „wunderbar gelungen“, attestierte Melzers Werk sprachliche Makellosigkeit und verglich den lakonischen Witz mit „feinen Haarrissen in alten Gemälden“. Von den Juror:innen Robert Huez, Jutta Person, Daniela Strigl und Gerhard Ruiss kam einhellige Zustimmung. Keiner der nominierten Romane wurde kontrovers besprochen, was für das Niveau der Erstlingswerke spricht. Bei der Preisverleihung verkündete Manfred Papst die Entscheidung der Jury, Tine Melzer mit dem FTLP auszuzeichnen. Er hob die Qualität aller hervor: „Fünf herausragende Romane standen in der Endrunde für den Franz-Tumler-Preis 2023, alle hätten ihn verdient.“
Das Schöne an Laas: Der FTLP macht alle zu Fachleuten. Souverän ist, wer liest und/oder Geschriebenes aufnimmt. Lesevorlieben, Geschmäcker, Eindrücke, Gespräche – das Publikum entwickelt durch die öffentlichen Lesungen und oft auch durch das eigene Leseerlebnis eine Meinung zu den Romanen. Und ist durchaus kritisch. Es diskutiert Stil und Ton, bespricht die Figurenentwicklung, zieht Parallelen, kommentiert die Lese-Performance, gibt vor der Preisverleihung Tipps ab: Denkst du, … wird gewinnen? Oder doch …? Wer durch Laas streift, entdeckt Leseorte. Offene Bücher-Tausch-Regale laden zum Blättern ein, die Schaufenster tragen Buchzitate. Die Kaufleute, der Bildungsausschuss, das Organisationskomitee des Preises, das Bibliothekspersonal, der Verein Vinschger Bibliotheken und die vielen Leser:innen bilden ein verzweigtes Lese-Netzwerk. Der einzige Literaturpreis des Vinschgaus entfaltet durchaus Anziehungskraft. Und strahlt aus: Wenn die Autor:innen wieder nach Bern, nach Berlin, Hamburg und Wien zurückkehren, werden sie von Laas erzählen. Zwei von ihnen kommen bald wieder. Tine Melzer wird zu den Vinschger Literaturtagen 2024 erwartet und Publikumspreisträgerin Irina Kilimnik kann einen Schreibaufenthalt auf den Rimpfhöfen einlösen. Ihr Roman „Sommer in Odessa“ hat den Leser:innen der Bibliotheken und dem Saalpublikum am besten gefallen. Wie gut, dass Laas die Dichtung des Augenblicks für alle freilegt. So entsteht Lesekultur und der FTLP wird zu einem Fixpunkt im Leseleben von vielen.
4 Fragen an
Franz-Tumler-Literaturpreisträgerin Tine Melzer
Vinschgerwind: Glückwunsch zum Preis! Hat ihn Ihr Protagonist Johann Trost mitgewonnen? Was würde er denn dazu sagen?
Melzer: Absolut! Er würde sich wundern und er würde sich wahrscheinlich fragen, wie viel Abstand auf der Bühne und zu den anderen der richtige wäre. Händeschütteln macht er ja, aber wir wissen aus dem Buch, dass er seine Hände meist in den Manteltaschen hat. So vielen Leuten die Hände zu schütteln, das übernehme ich für ihn. Er kümmert sich dann um den Rest.
Vinschgerwind: Welchen Eindruck von Laas haben Sie gewonnen?
Melzer: Es ist wirklich einfach himmlisch. Ich habe manchmal das Gefühl gehabt, ich wäre wie bei „Truman Show.“ Das ist dieser sehr erfolgreiche Kinofilm, in dem alles perfekt inszeniert ist. Alle grüßen hier und sind freundlich. Ich dachte schon manchmal, das ist wirklich so perfekt als wäre es eine Kulisse von Kulturfreundlichkeit, die es auf dem Planeten gar nicht gibt. Die Organisation, die Betreuung, jeder Supermarkt hat Texte vorne auf der Scheibe, Menschen kommen und sie können lesen! Und sie können kochen! Sogar das Essen war gut in Laas. Ich bin einigermaßen überwältigt und muss sagen, das wird nicht das letzte Mal sein, dass ich da war. So viel Kultur an einem numerisch so kleinen Ort, da sagt dann auch Johann Trost: „Viertausendeinhundert – das ist statistisch eigentlich gar nicht möglich, dass es sowas gibt.“
Vinschgerwind: Wie empfanden Sie das Jurygespräch zu „Alpha Bravo Charlie“?
Melzer: Die Struktur der Jurybesprechung ist ja bekannt. So harsch das auch klingen mag, es war dann so großzügig und wohlwollend besprochen. Es ging nicht darum, mit Stichen irgendwelche Schwächen hervorzuheben, sondern alle haben sich bei jedem Werk bemüht, die Stärken zu betonen. Das ist als Klima unglaublich angenehm. Wir fünf Autor:innen haben uns auch darüber verständigt, dass wir das alle so erfahren haben und auch nicht das Gefühl hatten, wir wären fünf kurzbeinige Ponys, die gegeneinander antreten. Schon bei der Eröffnung wurde uns vermittelt, dass die Einladung zum Preis uns potentiell zu Preisträger:innen macht. Wir sind in der gleichen Liga. Letztendlich gibt es dann diese Hierarchie, jemand muss gewinnen. Aber ich hätte auf eine Kollegin gesetzt, der hätte ich es wirklich auch an den Hals gewünscht. Es ist wirklich eine Freude, die Stimmung war ausgezeichnet.
Vinschgerwind: Haben Sie sich von Ihrem Johann Trost verabschiedet und schon den nächsten Protagonisten entwickelt?
Melzer: Er wird mich wohl immer begleiten, das ist inhärent an meinem Leben. Das ist eine Figur, mit der ich viel anfangen kann, die mich auch begleitet. Auch dieses Zählen, dieses Buchstabieren, die Ordnung: Das ist mir alles nicht fremd. Es ist kein biographischer Roman, den ich einem Mann auf den Leib geschrieben habe. Da sind Elemente, die ich aus meinem Leben importiere, wie immer in der Literatur. Es gibt schon die Arbeit an einem zweiten Roman. Das Ganze hängt miteinander zusammen, aber nicht so, dass wir Herrn Trost noch einmal begegnen, es ist eine ganz andere Situation. Ohne zu viel zu verraten: Es geht immer um das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft und um die Frage, wo wir am richtigen Ort sind und wie wir was beitragen können in der Situation, in der wir uns befinden. Mein nächster Held kämpft damit. Ich halte mich an eine Regel von Peter Handke, der sagt: „Was auch immer geschieht, der Held muss gerettet werden.“ So kam es auch zur Rettung von Herrn Trost, ich kann ihn da nicht hängen lassen. Er muss irgendeine Perspektive bekommen. Auch mein nächster Held wird gerettet, ich weiß nur noch nicht, wie.
Interview: Maria Raffeiner