Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Anselm von Canterbury, 21. April 2023
Bis zum Tod von Andrea Papi aus Caldes im Trentiner Sulzberg heuer zu Ostern war die Problematik des Zusammenlebens von Menschen und den Braunbären in der Kulturlandschaft vom Thema Wolf in den Hintergrund des Interesses und aus den Schlagzeilen der Medien verdrängt worden. Die Tötung eines Menschen hat die Bären wieder schlagartig auf die Titelseiten gebracht.
Ich greife heute das vieldiskutierte und oft beschriebene Thema jenseits der Tagesaktualität aus drei Gründen auf: Ich möchte an die Anfänge des Life Ursus-Projektes im Trentino erinnern. Ich möchte das ambivalente Verhältnis von uns Menschen zum Bären aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen etwas ausleuchten. Und ich möchte radikal-fundamentalistischen Positionen entgegentreten und an die Vernunft appellieren. Vernunft ist ja jene Gabe, die wir Menschen immer für uns als typisch menschliche Eigenschaft beanspruchen. Nachstehend also der Versuch eines demütigen Zwischenrufes.
Die Anfänge
Mit dem auch von der Europäischen Union mitfinanzierten Projekt „Life Ursus“ hat die Auffrischung der aussterbenden Restpopulation von Braunbären in der Trentiner Adamello-Brenta-Gruppe begonnen: 1998 wurden zehn Bären aus Wildfängen in Slowenien in den Wäldern des genannten Trentiner Berggebiet freigelassen, 7 Weibchen und 3 Männchen. Vorher, im Jahr 1997, hatten die Rumpfpopulation der ansässigen Bären nur noch drei, nicht mehr fortpflanzungsfähige Bären umfasst. Die letzte natürliche Reproduktion von autochthonen Brenta-Bären war für das Jahr 1987 bestätigt worden.
Bevor das Trentiner Wiederansiedlungsprojekt umgesetzt worden war, hatte die Trentiner Landesregierung die Regierungen aller Nachbarprovinzen um das Einverständnis zur Auswilderung der „Importbären“ ersucht. Und alle Landesregierungen der Nachbarprovinzen haben damals ihr Einverständnis erteilt. Ziel des Projektes Life Ursus war die Wiederherstellung einer sich selbst erhaltenden Bärenpopulation: Innerhalb von 20-40 Jahren sollte ein Bärenbestand von 40-60 Tieren erreicht werden.
Einsichten
Aber die Situation ist inzwischen aus dem Lot geraten: Der Trentiner Bärenreport aus dem Jahr 2022 gibt eine geschätzte Population von 100 Bären an. Dabei sind die Weibchen mit ihren Jungen nach wie vor in einem relativ kleinen Kerngebiet von 2.039 km² im Brenta-Gebiet und in Judikarien verblieben. Dementsprechend hoch ist in diesem Kerngebiet die Dichte der Bären mit allen Folgen wie Stress, Nahrungsdruck, Aggression. Die männlichen Bären bestreichen auf der Suche nach Partnerinnen und neuen Territorien ein weit größeres Gebiet von 30.550 km² und sind aus den Zentralalpen schon bis nach Süddeutschland gestreunt.
Die zu hohe Dichte von Braunbären in einem zu kleinen Areal musste zu Konflikten führen. Dies umso mehr und umso schneller, weil es sich beim Gebiet um eine vom Menschen vielfältig und langjährig genutzte Kulturlandschaft handelt. Die menschliche Nutzung ist intensiver geworden: in der agrarischen Bodennutzung, mit der Verdichtung der Besiedlung und Verbauung, dem Anlegen von Infrastrukturen für unsere Mobilität. Die Frage stand mit zunehmenden Schäden und Attacken auf Menschen schon länger im Raum, ob Mensch und Bär in einer solchen Landschaft kompatibel koexistieren können. Nach der Tötung eines Menschen durch einen Bären haben jetzt Enttäuschung, Ohnmacht, Zorn und Wut einen Höhepunkt erreicht. Aber auch die Polarisierungen, wenn eine fundamentalistischen Artenschutzorganisation das Abschuss-Dekret des Trentiner Landeshauptmannes zur Tötung des Killerbären vor dem Regionalen Verwaltungsgerichtshof anficht. Blinder Fundamentalismus geht sogar soweit zu fordern, man müsse den Menschen beibringen, im Bärengebiet nicht mehr in den Wald zu gehen und dem Wald den Bären überlassen.
Jetzt sind vernunftbetonte Einsichten und fachliche Korrekturen von offenkundig gewordenen Fehlern gefragt, nicht taktierende Absichtserklärungen. Wendehälse zum Thema Große Beutegreifer braucht es jetzt weder in der Wissenschaft noch bei den Entscheidungsträgern in Politik und Verwaltung. Der Vorschlag aus dem Umweltministerium, die Trentiner Bärenpopulation auf die Hälfte zu reduzieren durch Umsiedlung in bärentaugliche Gebiete darf in punkto Machbarkeit bezweifelt werden. Welches Gebiet hebt zur Aufnahme von Bären freiwillig die Hand? Und welches Gebiet lässt sich nach den Vorfällen der letzten Jahre zwangsbeglücken?
Eine Vernunftlösung
Was wäre, wenn wir uns alle einfach eingestehen, dass wir uns in unseren Einschätzungen der Bärenproblematik phasenweise auch geirrt haben? Das Monitoring, die Politik, die Wissenschaft, die Artenschützer? Und eine vernunftbetonte Haltung einnähmen, aus Fehlern zu lernen?
Nur mit der Verstärkung des Monitorings und der Kommunikation kommen wir auch beim Wolf als den zweiten Großen Beutegreifer nicht zu Rande. Ohne die Regulierung des Wolfes werden wir die Almwirtschaft verlieren. Und das Auflassen von Almen bringt Verlust von Artenvielfalt, Höfesterben, Verbuschung, Verlust von ästhetisch wertvoller Kulturlandschaft, erhöhtes Erosionsrisiko und vieles mehr.
Schnell sollte auch die Zeit kommen, in der die Regulierung der Populationen Beutegreifer ein gesetzlich verankertes Prinzip wird. In reifen Demokratien muss der Gesetzgeber meines Erachtens eine legale Lösung anbieten, sie nicht verschieben und scheuen. Geschädigte, enttäuschte und verzweifelte Tierhalter dürfen nicht zu ungesetzlichen Selbsthilfen wie Vergiften und Wilderei verleitet werden. Der europäische Braunbären-Bestand wird derzeit mit 17.000 Stück Tieren angegeben, jener des Wolfes mit 15.000 – 17.000 Stücken (Stand 2019). Derlei Bestandszahlen erheben die beiden Arten über den Schwellenwert einer vom Aussterben bedrohten Art. Deswegen muss auch die Klassifizierung als Natura 2000-Art mit der höchsten Schutzkategorie nachjustierbar sein.
Will man eine Wildtierart erhalten, geht es nie um die Frage eines einzelnen Individuums, sondern um die Art als solche. Will heißen, wenn man problematische und verhaltensauffällige Exemplare entnimmt, hat der Bestand der Art seine Ruhe. Die Bärin Jurka war mit ihren Jungen aus zwei Würfen für ¾ aller Bärenschäden im Trentino verantwortlich, als die Trentiner Braunbärenpopulation bei 50 Tieren lag.
Kritizität war bekannt
Dass das Zusammenleben von Menschen und Bären in Kulturlandschaften schwierig ist und nicht konfliktfrei abläuft, haben wissenschaftlich seriös geführte Studien schon wiederholt belegt. Ich zitiere hier exemplarisch ein paar Studien, die Andrea Mustoni, Trentiner Zoologe und Experte für Huftiere und Große Beutegreifer, in seiner Monographie „L´orso bruno sulle Alpi. Biologia, comportamento e rapporti con l´uomo“ (Nitida immagini editrice Cles, 2004) zusammenfassend wiedergegeben hat. Einige Fälle von Tötungen von Menschen durch Braunbären sind für verschiedene europäische Länder (Rumänien, Russland, Finnland, Slowenien, Kroatien, Bosnien, Herzegowina dokumentiert (Ciucci P. u. Boitani Luigi, 2000). In Rumänien, wo die Braunbären-Population auf 6.000 Tiere (Stand 2004) geschätzt wurde, sind zwischen 1987 und 1992 193 Personen durch Bären verletzt worden (Kaczensky, 1996). In Slowenien sind in den Jahren zwischen 1945 und 2003 bei insgesamt 30 dokumentierten Bären-Aggressionen drei Menschen getötet worden, in Bosnien Herzegowina im Biennium 1986-1988 zwei. In den slowakischen Karpaten mit einer Bärenpopulation von 600 Tieren und einer Dichte von 0,5 Bären je 1 km² wurden in drei Jahren insgesamt 26 Menschen schwer verletzt (Hell P. u, Bevilacqua F, 1988).