Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Valentin von Terni, 14. Februar 2023
Werner Bätzing gilt in der Wissenschaft als einer der besten Kenner der Alpen. Er ist der emeritierte Professor für Kulturgeographie an den Universitäten Bern und später Erlangen Nürnberg. Werner Bätzing hat 1984 die erste Ausgabe seines Buches über die Alpen publiziert. Sein Forschungsschwerpunkt war über 30 Jahre lang die Regionalentwicklung in den Alpen. 2015 hat Prof. Bätzing im C.H. Beck-Verlag die 4., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage seines Standardwerkes „Die Alpen – Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft“ veröffentlicht. Aus diesem wissenschaftlichen Werk versuche ich eine Zusammenfassung des Kapitels V.
„Welche Zukunft für die Alpen?“
Werner Bätzing verweist zu Recht auf die große Komplexität des Themas. Eine Aussage über die Zukunft der Alpen ist nur mit Hilfe der „Szenarientechnik“ möglich. Ein Szenario ist keine Prognose oder Vorhersage im Sinne einer Vorausberechnung der Zukunft. Jedes Szenario bedient sich für Einschätzungen nämlich einer Reihe von „Schlüsselfaktoren“ oder Parametern. Deshalb bilden Szenarien nie die gesamte Wirklichkeit ab, sondern immer nur den Teil, der auf den ausgewählten Schlüsselfaktoren fußt.
Werner Bätzing folgt in seinen Einschätzungen über die Zukunft der Alpen zwei großen Strängen von denkbaren Szenarien:
1. dem Szenario „Trend“
2. dem Szenario „Trendbrüche“.
Das erste Szenario „Trend“ geht davon aus, dass zukünftige Entwicklungen so weitergehen wie bisher und dass in absehbarer Zeit keine Trendbrüche eintreten. Das zweite Szenario berücksichtigt „Trendbrüche“ wie sie im 20. Jahrhundert mit den einschneidenden Ereignissen des 1. und 2. Weltkrieges, der Weltwirtschaftskrise, dem Kalten Krieg und dem Fall der Berliner Mauer 1989 geschehen sind. In der europäischen Öffentlichkeit ist trotzdem der Glaube an einen permanenten Fortschritt sehr verbreitet, bei dem Zukunft nur als Verlängerung der gegenwärtigen Sachzwänge besteht. Eine solche Haltung ist realitätsfern. Und zwar spätestens seit der winzige Covid 19-Virus, der Krieg in der Ukraine, der Klimawandel, die Rohstoffkrise, die Inflation und Verteuerung der Lebenshaltungskosten, die immer breiter klaffende soziale Schere und der Verlust der Biodiversität mehrere Rahmenbedingungen grundlegend verändert haben.
Szenario „Trend“ für die Alpen bis zum Jahr 2035
Werner Bätzing umreißt 2015 sein Szenario zur Entwicklung der Alpen für den Zeitraum der 20 Jahre bis 2035 mit Hilfe folgender Schlüsselfaktoren: Erreichbarkeit, Landwirtschaft, Industrie, Tourismus, Alpenstädte, ubiquitäre Arbeitsplätze, Wasserkraft/Energie, Natur/Umwelt, Klimawandel, Gesellschaft und Kultur, Entwicklung der Einwohnerzahlen. Und schreibt:
„Erreichbarkeit (2035): Die derzeit in Bau befindlichen Hochgeschwindigkeitsstrecken der Eisenbahn über Gotthard, Brenner, Frejus sowie zwischen Wien und Klagenfurt sind fertiggestellt, und sehr wahrscheinlich sind weitere Strecken gebaut worden. Damit liegen alle größeren Alpenstädte jetzt an einer solchen Strecke, wodurch sich die Entfernungen zwischen ihnen und den außeralpinen Metropolen noch einmal deutlich verringern.
Landwirtschaft: Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe wird weiter stark zurückgehen. Die Betriebe in den inneralpinen Trockenzonen bleiben konstant, und die in tiefen Tal- und Beckenlagen gehen aufgrund der Ausweisung der Siedlungs- und Verkehrsflächen und beim Generationenwechsel zurück, während die Betriebe in ungünstigen Lagen und im eigentlichen Gebirgsraum fast vollständig verschwinden.
Industrie: Die Zahl der Industriebetriebe im Alpenraum geht weiterhin wegen der peripheren Lage zurück; allerdings bleibt dieser Wirtschaftssektor weiterhin für die Tallagen der Alpen von erheblicher Bedeutung.
Tourismus: Das Nächtigungsvolumen des alpinen Tourismus liegt 2035 ähnlich hoch wie heute, allerdings konzentrieren sich die Übernachtungen relativ stark auf die 300 größten Tourismuszentren. Viele mittlere Tourismusgemeinden erleiden große Verluste, und die meisten der kleinen Tourismusgemeinden sind 2035 längst vom Markt verschwunden.
Alpenstädte: Das Wachstum der Alpenstädte setzt sich unvermindert fort. Der Prozess der Vervorstädterung zahlreicher Alpenstädte beschleunigt sich gleichzeitig. Die größten Alpenstädte bleiben bis 2035 zwar noch eigenständig, werden aber immer stärker mit den Metropolen am Alpenrand verflochten.
Ubiquitäre Arbeitsplätze: Die ubiquitären Arbeitsplätze wachsen in den verstädterten Alpenregionen und entlang der Transitlinien weiterhin stark.
Wasserkraft/Energie: Wegen des hohen Energiebedarfes in den europäischen Metropolen wird die Wasserkraft im Alpenraum weiterhin ausgebaut, und parallel entstehen große Windkraft- und Solaranlagen.
Naturschutz: Bis 2035 werden weitere große Flächen unter Schutz gestellt; dabei werden Naturschutzgebiete immer wichtiger für eine umwelt- und sozialverträgliche Stärkung von regionalen Wirtschaftspotentialen.
Natur/Umwelt: Die Siedlungsflächen wachsen weiterhin extrem stark, die Waldflächen wachsen deutlich, und die Kulturflächen gehen erheblich zurück.
Klimawandel: Die Klimaerwärmung geht weiter, allerdings wird bis 2035 noch keine extreme Erwärmung eintreten. Durch das weitere Auftauen des Permafrostes und häufigere Extremwetterlagen wird die Zahl der Katastrophenereignisse erheblich zunehmen.
Gesellschaft und Kultur: Mit der weiteren Modernisierung der Gesellschaft durch Wertewandel und Zuzüge nimmt die Verantwortung für den eigenen Lebensraum stark ab. Gleichzeitig breiten sich immer mehr ubiquitäre Lebensstile aus, und Inszenierungen von Alpenkultur werden noch sehr viel häufiger.
Einwohnerentwicklung: Alle Staaten mit Alpenanteil und auch die EU haben regionalisierte Bevölkerungsprognosen für die Zeit 2030-2040 erarbeitet. Während die Bevölkerung in Deutschland aufgrund des demographischen Wandels (Überalterung) bereits seit einigen Jahren zurückgeht, wird dies in der EU 27 erst nach 2040 der Fall sein. Bis zum Jahr 2030 wird die EU 27 um 4,1 % wachsen, und dabei werden die Regionen mit Alpenanteil fast doppelt so stark wachsen (7,9 %). Das bedeutet, dass die Alpen auch in Zukunft im Verhältnis zum europäischen Durchschnitt überdurchschnittlich stark wachsen werden – Basis ist das starke Wachstum aller Metropolen am Alpenrand (mit Ausnahme von Turin und Genua) -, auch wenn die jährlichen Wachstumsraten wahrscheinlich etwas geringer werden (1981-2011=0,5 % pro Jahr, 2010-2035 =0,4 % pro Jahr). Zugleich werden jetzt aber auch auf dieser Maßstabsebene ganze Regionen mit Bevölkerungsrückgang sichtbar, die deutlich machen, dass sich auch der Bevölkerungsrückgang in den Alpen weiter fortsetzen wird.“
Infokasten: Die Alpen in Zahlen
Fläche: 190.568 km²
West-Ost-Ausdehnung: ca. 1.000 km
Nord-Süd-Ausdehnung: bis zu 250 km
Alpenstaaten: 8
Gemeinden: 5.954
Einwohner: 13,9 Mio.
Besucher:
Wochenendausflügler: ca. 80 Mio. i. J. Feriengäste: ca. 70 Mio. i. J. Skifahrer: ca.50 Mio i. J. Beschriebene Pflanzenarten: 13.000
Beschriebene Tierarten: 30.000
Landschafts- und Naturschutzgebiete: über 1.000
Warentransit: 116,8 Mio. Nettotonnen (davon auf Straße: 72,2 und auf Schiene: 44,6)
Aufgeteilt auf Passübergänge:
Brenner: 52,8 Mio. NT (davon 38, 9 auf LKW, 14,0 auf Schiene)
Reschen: 0,9 Mio. NT auf LKW
Mont Cenis/Frejus: 14,4 Mio. NT (davon 11,8 auf LKW, 2,6 auf Schiene)
Grosser St. Bernhard: 0,4 Mio. NT auf LKW
Simplon: 12,6 Mio. NT auf LKW
Quelle zum Warentransit: Das Alpenbuch,
Marmota Maps 2021