Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Nikolaus von der Flüe, 25. September 2022
Nachdem der Staudamm am Reschen-Stausee von 1947 bis 1949 gebaut und der See bis 1950 gefüllt worden ist, kennen selbst die heute Achtzigjährigen die Geschichte der Naturseen in der Oberländer Haupttalsohle nicht mehr aus dem eigenen Erleben, sondern nur mehr aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern.
Der Sammelfreude und dem Geschichtsbewusstsein des Laasers Franz Waldner, Direktor der Berufsschule Schlanders und der Fachschule für Steinbearbeitung Laas in Ruhe, ist es zu verdanken, dass ich den heutigen Zeitungsbeitrag verfassen konnte und anbieten kann. Franz hat mir aus seinem Archiv die Publikation von Univ. Prof. Johann Müllner zur Verfügung gestellt, welche im Jahr 1900 von der Edition Hölzl in Wien unter dem Titel „Die Seen am Reschen-Scheideck. Eine limnologische Studie“ veröffentlicht worden war. Franz Waldner hat ein Buchexemplar dieser wertvollen heimatkundlichen Informationsquelle antiquarisch in Wien erstanden. Und der Schuldirektor i. R. Dr. Hubert Folie hat mir die historischen Bilddokumente aus seiner Sammlung zur Verfügung gestellt zur Illustration dieses Textes.
Prof. Müllner gliedert seine 46 Seiten und mehrere Anhänge umfassende Publikation in sieben Abschnitte. In meiner Zusammenfassung der Studie von Prof. Müllner halte ich mich an seine Gliederung.
Die Lage der Seen
Prof. Müllner beschreibt zunächst die Lage der drei Naturseen Reschensee, Mittersee und Haidersee an der jungen Etsch und stellt fest, dass sich die Wasserscheide am Reschenpass in den Jahrtausenden von vor bis nach den Vereisungen der Alpen verändert hat. Ein Seitenarm des großen Inntalgletschers hat während der Eiszeit über den Reschenpass herein in den Süden gereicht und das Obervinschgauer Haupttal ausgehobelt und eingetieft. Nach den Eiszeiten haben die postglazialen Murabgänge aus den Seitentälern mit den Schuttkegeln Barrieren in das Haupttal eingeschoben und die Fließrichtung der Bäche verändert.
Das untere Ende des Haidersees liegt auf 1.450 Metern Meereshöhe. Gegenüber der Quote von 1.506 m am Reschen-Scheideck ergibt sich somit eine Fallhöhe von 46 Metern auf einer Länge von 11 Kilometern. Das durchschnittliche Gefälle der jungen Etsch beträgt in diesem Abschnitt somit 4 Promille.
Die Schuttkegel - Kinder der Nacheiszeit
Während der vier Eiszeiten, die sich im Alpenbogen ereigneten, füllte das Eis der Gletscher die Böden der Talsohlen an der oberen Etsch bis auf Höhen von 2.500 Meter aus. Die Gletscher stießen in ihren Höchstständen bis in die Gegend südlich des Gardasees vor. Der bereits erwähnte nach Süden fließende Seitenarm des Inntalgletschers vereinigte sich im Obervinschgau mit dem Gletscher aus dem Langtauferer Tal.Die Würm-Eiszeit als vierte und letzte Eiszeit ist in den Alpen zwischen 15.000 und 12.000 v. Chr. abgeklungen.
Danach begann die Phase der Verfüllung und Zuschüttung der Haupttäler durch Erosion: Geröll- und Schottermassen lagerten sich nach Unwettern und Extremwetterereignissen mit Murabgängen in Form von Schuttkegeln im Haupttal ab. Diese sich im Laufe der Jahrtausende wiederholenden Ereignisse führten zu turmhohen und großflächigen Aufschüttungen, wie wir sie mit den Schuttkegeln der Malser Haide und des Gadria zwischen Laas und Kortsch kennen. Diese in das Haupttal einspringenden Kinder der Erosion geben dem Vinschgau sein charakteristisches Längsprofil mit Steilstufen und Flachstücken. Und die Schuttkegel verdrängten die Etsch aus der Talmitte an den gegenüberliegenden Hangfuß.
Im Obervinschgau führte die nacheiszeitliche Erosion mit ihren Murabgängen zwischen Reschen und St. Valentin zur Abdämmung der drei getrennten Seewannen des Reschen-, Mitter- und Haidersees. Diese drei Seebecken bestanden als Naturseen bis zum Bau des Reschen-Staudammes mit der Flutung von Alt-Graun und Alt-Reschen.
Das Nährgebiet der drei Seen
Um 1900, als Johann Müllner seine limnologische Studie publizierte, führte die Etsch beim Verlassen des Haidersees das Wasser eines Einzugsgebietes von 206 km² Fläche. Von diesen entfielen 42 km² auf das Nährgebiet des Reschensees. Der Rojenbach als einer der Hauptzuflüsse des Reschensees entsrömt einem hauptsächlich aus Quarz und Gneisphylliten bestehendem Gebiet. Seine Sedimente fanden sich vor dem Bau des Staudammes am Seeboden als feiner Sand, der in der Regel das Wasser nicht trübte, sodass der Reschensee als Natursee von großer Klarheit war.
Die Wassertiefen
Johann Müllner hat 1897 und 1898 in mühevoller Kleinarbeit mit Helfern die drei Seen in ihren Tiefen ausgelotet. Dank vieler Messpunkte konnte er in der Folge ein genaues Bild von der Unterwasser-Morphometrie der Seewannen in Längs- und Querschnitten darstellen.
Für den historischen Reschensee gibt Müllner an dessen Oberfläche eine Meereshöhe von 1478 Metern und die größte Tiefe mit 22,5 Metern an. Den größten Anteil an insgesamt 23 Tiefenstufen des Sees hatte die Wassertiefe bis zu einem Meter mit knapp 20 % Anteil an der gesamten Seefläche von 91 Hektaren. Das Wasservolumen des alten Reschensees gibt Müllner mit insgesamt 7,46 Millionen Kubikmeter an.
Der Mittersee lag mit einer Meereshöhe von 1474 Metern an seiner Oberfläche um 4 Meter tiefer als der Reschensee. Die Landzunge zwischen den beiden Seen gibt Müllner mit 1,99 km Breite an. Der Mittersee hatte eine Höchsttiefe von 17 m und ein Gesamtvolumen von 4,53 Millionen m³. Summiert man die Wasservolumina von Reschen- und Mittersee, kommt man auf 11,98 Millionen m³. Zum Vergleich: Der heutige Reschen-Stausee beinhaltet 116 Millionen m³ Wasser, also fast die zehnfache Menge. Was hingegen die Flächenausdehnung der Seen betrifft, ist die Oberfläche des heutigen Reschen-Stausees mit 677 Hektaren 4,5 mal so groß wie die Fläche der beiden vormaligen Naturseen Reschen- und Mittersee zusammen (152 ha).
Allein aus diesem Zahlenvergleich wird klar, wieviel Land mit der Seestauung unter Wasser gesetzt wurde. Reste einer Steinmauer zu beiden Seiten des Auslaufes am Mittersse weisen darauf hin, dass der See einst gesperrt werden konnte. An der Stelle dieser Mauern dürfte, laut Müllner, auch der verheerende Ausbruch vom 17. Juni 1855 erfolgt sein.
Der Haidersee hingegen liegt an seiner Oberfläche auf 1.450 m MH und erreichte an seiner tiefsten Stelle eine Tiefe von 16,5 Metern. Als Volumen gibt Müllner eine Wasserhaltung von 6,51 Millionen m³ an.
Die Wasserstände
Müllner schreibt im Jahr 1900, dass es ab 1866 für alle drei Seen tägliche Pegelbeobachtungen mit unterschiedlichen langen Aufzeichnungsperioden gibt. Deren wissenschaftliche Interpretation relativiert der Autor, weil man während des Beobachtungszeitraumes mehrfach den Nullpunkt des Pegels verändert hat. Ein Kurzzusammenfassung der Pegelstände sei exemplarisch für den alten Reschensees in der Periode der 20 Messjahre von 1876 – 1895 gemacht: Damals zeigte der Reschensee von Jänner bis April einen konstanten Wasserstand von -46 cm. Im Mai stieg der Pegel um 8 cm. Im Juni erreichte er sein Maximum mit -20 cm. Im Juli sank er um 1 cm. Im August lag der Seespiegel bei -32 cm. Bis zum Dezember fiel er konstant bis auf -49 cm als Niedrigststand, um ab Jänner wieder anzusteigen.
Die Niederschläge im Einzugsgebiet
Für die Bewertung der Niederschlagsverhältnisse konnte Müllner die Daten von fünf Stationen auswerten: Die Erhebungen der Niederschläge in Hinterkirch (Langtaufers, auf 1875 m MH), Pedross (1674 m), Graun und Reschen betreffen unterschiedlich lange Messreihen, sind teilweise lückenhaft und damit begrenzt aussagekräftig. Die 5. Station ist Marienberg in 1335 m MH. Das Kloster verfügt über die längste und lückenlose Datenreihe. Aber in ihrer geographischen Lage entspricht die Station nicht mehr genau den Niederschlagsverhältnissen im Einzugsgebiet der drei Seen. Müllner kommt zum Schluss, dass der Wasserstand der Seen nicht primär von den Niederschlagsmengen beeinflusst wird, als vielmehr durch die Temperatur und die davon abhängende Schnee- und Eisschmelze.
Die Dauer der Eisdecke
In Zeiten des Klimawandels und der Erderwärmung ist vielleicht ein Hinweis auf die historischen Daten über die Dauer der winterlichen Eisdecke interessant. Müllner bedient sich der Daten des k. k. hydrographischen Central-Bureaus in Wien und resümiert: „Die Seen frieren gewöhnlich im November zu. Der früheste Termin war der 26. October im Haidersee. Am spätesten froren die Seen im Jahre 1885, nämlich erst am 16. December. Der Zeitpunkt des Aufthauens fällt in den April, seltener in den Anfang des Mai. … Im Mittel währt die Eisbedeckung 153 Tage oder rund 5 Monate. … Die längste Dauer der Eisdecke betrug 174 Tage, die kürzeste 109 Tage.“ Das Eis wächst von unten und schmilzt von unten durch die Erwärmung des Wassers: An der Eisoberfläche gibt es keine Wasserpfützen. Noch ein letztes Zitat aus Müllners limnologischer Studie zu Mächtigkeit, Volumen und Gewicht der Eisdecke an den drei Seen: „Wir können die Eisdecke unserer drei Seen ohne Bedenken als nahezu gleich betrachten und ihre eine durchschnittliche Mächtigkeit von 50 cm zuschreiben, so dass beispielsweise Ende Februar und anfangs März 1896 in den Seen eine Eismenge von 1.205.000 m³ oder 1.109.000.000 kg gespeichert war.“