Frau Rita Pircher hat viel Zeit zum Nachdenken. Ihre Lungenprobleme zwingen sie zur Untätigkeit. Ihre Gedanken kreisen oft um ihren Bruder Herbert, der ebenfalls schwer skrank in Basl in der Schweiz lebt. Und sie kreisen um ihren Cousin Luis Pircher, der im Dezember 2019 plötzlich in der Schlanderser Fußgängerzone an Herzversagen gestorben ist.
von Magdalena Dietl Sapelza
Rita und und ihr Cousin Luis verband eine besonders innige Beziehung. Kurz vor seinem Tod hatte er noch bei ihr vorbei geschaut und sich wie immer mit einem „Pfiati“ von ihr verabschiedet. Rita kannte seine Ängste, seine Sorgen, seine Traurigkeit. Und es ist ihr ein Bedürfnis von ihm zu erzählen, um ihm so noch eine Ehre zu geben. Viele kannten ihn als unwirschen Mann, vor allem dann, wenn er einen über den Durst getrunken hatte. „Niachtern isch dr Luis a wunderborer Mensch gweesn.“ betont Rita. Nur sie weiß, wie ihn das Leben zermürbt, wie sehr er an Heimweh gelitten hat, nachdem er seinen Heimatort Laatsch verlassen musste. „Dr leschte Pircher fa Lootsch isch gongan“, betont sie. Rita hatte die traurige Aufgabe, den Angehörigen in Laatsch mitzuteilen, dass der Luis eine Urnenbestattung in seinem Heimatort haben möchte. Das wurde ihm auch gewährt. „Donkn muaß i dr Rita unt in Franz Erhard. Dia hoobm miar fescht gholfn“ betont Rita. Sie schaffte es gesundheitsbedingt leider nicht, bei der Beisetzung dabei zu sein. „Deis hot miar schun fescht wea toun“, sagt sie.
Rita wurde in Samedan in der Schweiz geboren. Ihre Mutter arbeitete dort als Köchin im Kreisspital. Im Alter von drei Monaten kam sie zu ihren Großeltern nach Laatsch. Dort lebte bereits ihr sechs Jahre älterer Bruder Herbert (Jg. 1942) und ihr Cousin Luis (Jg.1942). Die jungen Mütter wussten ihre Kleinen versorgt und konnten weiter arbeiten gehen. „Miar Kinder sein olle drei Leidige gweesn“, erklärt Rita. Ihre Väter kennen sie nicht. Die drei erlebten eine schlichte aber unbeschwerte Kindheit und verstanden sich gut. „Mai Muatr hot ins oftramol bsucht unt inz a Schweizer Tschugglat brocht“, erinnert sich Rita.
Irgendwann war die Großmutter nicht mehr in der Lage für die Kinder zu sorgen. „Sie hot‘s onfoch nimmer derpockt“, sagt Rita. Herbert, der damals bereits 16 Jahre alt war, zog in die Schweiz und besuchte dort eine Krankenpflegeschule. „Er isch seither olm oben bliebm“, sagt Rita.“ Sie und Luis mussten notgedrungen nach Reschen übersiedeln, zum Onkel Franz Pircher, der dort eine Tischlerei betrieb. „Dr Onkl hot inz aufnummen, obwohl er selber vier Kinder kopp hot“, sagt Rita. „I bin ihm unt seiner Frau heint nou donkbor dafür.“ Wenn das Heimweh drückte, oder sie als Neue im Dorf und in der Schules fragend gemustert wurden, gaben sich die beiden gegenseitig Halt. Ganz abschütteln ließ sich das Heimweh nie, obwohl es ihnen in der Großfamilie an nichts fehlte. „I fühl mi heint nou als Lootscherin, wenn i aa gor nimmer aui will“, bekennt sie.
Als Jugendliche ging auch Rita in die Schweiz. Auf Vermittlung ihrer Mutter konnte sie nahe Zürich eine Altenpflegeschule besuchen. Luis lernte währenddessen Tischler beim Onkel in Reschen. Rita und er verloren sich etwas aus den Augen. Er kehrte einige Jahre später zu seiner Mutter nach Laatsch zurück, die inzwischen geheiratet und zwei weiteren Söhnen das Leben geschenkt hatte.
Nach Abschluss der Schule verdiente sich Rita ihr Geld als Pflegekraft in Schweizer Altenheimen. „I bin übroll a bissl ummerkemman, unt di Orbat mit di oltn Leit hot mir gfolln“, sagt sie.
Sie lernte den 24 Jahre älteren Hermann Folie aus Tartsch kennen, heiratete ihn 1975 und zog mit ihm nach Schlanders, wo er im Steueramt Arbeit gefunden hatte. Überglücklich war sie, als Sohn Peter zur Welt kam. Erst als dieser aus dem Gröbsten war, kehrte sie wieder in den Altenpflegeberuf zurück. 1996 starb ihr Mann an einer Lungenembolie. Ihre Stütze ist seither ihr Sohn.
Zum Luis hielt sie ständig Kontakt. Er hatte den Briefträgerdienst seiner Mutter in Laatsch übernommen und betreute sie später auch ein Zeit lang.
Luis fühlte sich oft einsam, hatte keine eigene Familie und betäubte seinen Kummer mit einem „Glasl“. Manchmal war es auch eines zu viel. Nach dem Tod seiner Mutter wurde ihr Haus verkauft. Luis war überzeugt, dass er weiterhin dort wohnen könne. Ihr habe er immer erzählt, dass man ihm das versprochen hatte, sagt Rita. Es muss wohl ein Missverständnis gewesen sein. Der Abschied von Laatsch warf ihn jedenfalls völlig aus der Bahn. Das war vor fünf Jahren. Plötzlich stand er vor Ritas Tür. Ihm war eine Wohnung in ihrer Nähe zugewiesen worden. Nun wurde sie wieder zu seiner Bezugsperson und war für ihn da.
Jetzt fehlt ihr sein Klingeln an der Tür. Es ist still geworden. Auch ihr Bruder schafft es nicht mehr sie zu besuchen. Die Geschwister können nur noch täglich telefonieren und Erinnerungen austauschen, die sie auch mit dem Luis verbinden.