Das Entdecken des Wanderns

geschrieben von Ausgabe 7-19

s27 Jakobswege in EuropaWandern ist die älteste und ursprünglichste Form der Fortbewegung. Der Mensch ist, wenn man die Menschheitsgeschichte betrachtet, in erster Linie Fußgänger. Zuerst streifte er als Jäger und Sammler, als Nomade umher, auf der Suche nach Nahrung, wertvollen Rohstoffen und nach einem sicheren Unterschlupf.

Später begab er sich auf Kriegspfaden, machte Eroberungszüge, suchte Fluchtwege und begab sich auf Handelsrouten. Die Menschen machten Pilger- und Entdeckungsreisen. Und das alles in erster Linie zu Fuß als Wanderer, Pilger, Handelsreisende und Krieger. Erst vor rund 500 Jahren begannen die großen Seereisen mit Segelschiffen, um neue Länder und Kontinente zu entdecken und zu erobern. Seit 200 Jahren gibt es die Eisenbahn und das Fahrrad, seit 150 Jahren das Automobil, seit 100 Jahren Flugzeuge und seit 50 Jahren die Weltraumfahrt. Die mittelalterlichen Städte mit den malerischen Gassen und kurzen Verbindungswegen sind Orte für Fußgänger. Die alten Verbindungswege in den Alpen sind Wanderwege und Saumpfade über Jöcher und Pässe. Die modernen Autostraßen und Bahnlinien in den Tälern sind relativ jung. Die Brennerbahn wurde 1867 eröffnet, die Brennerautobahn wurde erst in den 60er und 70er Jahren gebaut. Die Adeligen im Mittelalter fuhren in der Kutsche, während das Bürgertum zu Fuß ging. Später wurde das Gehen im öffentlichen Raum zu einer Tugend. Man bestieg Berge, begab sich in die unberührte Natur. Zuerst waren es Künstler und Literaten, später Bergsteiger und Touristen. Der große Philosoph Immanuel Kant machte jeden Tag um 19 Uhr seinen Spaziergang, auch Albert Einstein ging von seinem Haus zum Büro alleine und zu Fuß. Seit 1.000 Jahren pilgern Menschen auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Andere bedeutende Pilgerziele sind Jerusalem und Rom. Früher gab es wandernde Handwerksburschen, fahrende Studenten und herumreisende Adelige, die ihre Wanderungen und Reisen als Ausbildung und Bildung im weitesten Sinne des Wortes ansahen. Es gibt berühmte Protestmärsche: der Salzmarsch von Mahatma Gandhi in Indien im Jahre 1930, der lange Marsch von Mao Zedong 1934 in China. Beim Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit am 28. August 1963 beteiligten sich über 200.000 Menschen und forderten das Ende der Rassendiskriminierung in den Vereinigten Staaten. Martin Luther King hielt damals seine berühmt gewordene Rede „I have a dream“. Berühmt wurden die Anti-Atom-Protestmärsche und die Ostermärsche der Friedensbewegung und Antiatombewegung. Mobilität bedeutet heute Geschwindigkeit und eingesperrte Leiber in Blechkisten, meint der Philosoph Pascal Bruckner. Das Wiederentdecken des Wanderns, besonders von Fernwanderungen, ist ein Gegentrend, ein Abenteuer der Langsamkeit. Viele sprechen auch von der Magie des Gehens. Die Nutzung schneller Verkehrsmittel führt zu einer Entfremdung von der unmittelbaren Umgebung. Um dem zu entfliehen, suchen viele s27 Europaeische Fernwanderwegenach dem Vergnügen der Mobilität in immer kleineren Maschinen: Fahrrad, Moped und Elektroroller. Und vor allem gibt es ein wiederaufkommendes Interesse am Wandern. Wandern hat mit Individualismus, mit Freiheit und Heimaterkundung zu tun, auch mit der Wiederentdeckung des eigenen Körpers. Ganz gleich ob es eine Wanderung durch einen Wald ist, ein Aufstieg zu einem Gipfel, eine Wanderung durch die Wüste oder ein Flanieren in der Stadt. Wandern ist wie ein Ersatzgottesdienst an der frischen Luft, in der freien Natur. Der Fußgänger wandert durch die Landschaft und wird ein Teil von ihr. So wird das Wandern zu einer Befreiung aus der Enge, ein Durchbruch ins Freie, eine neue Begegnung mit der Natur, um Kraft zu schöpfen, dem Berufsalltag zu entfliehen und sich mit neuen Bildern und neuen Erfahrungen zu bereichern. Alte Wanderwege, Übergänge, Jägersteige und Pfade der Bauern und Hirten werden wieder hergerichtet und neu interpretiert. Es gibt eine ganze Reihe von kurzen Spazierwegen: Waalwege, Mühlenwege, Almenwege, Kunstwanderwege, Besinnungswege, Höfewege, Waldwege, Schmugglerwege, Pilgerwege, Stundenwege, Schluchtenwege, Gletscherwege, Seerundgänge, Sagenwege. Es gibt neben Bergsteigerdörfern und Wanderhotels auch europäische Wanderdörfer. Das Schnalstal, Truden/Altrei und Wengen im Gadertal gehören dazu.

Es gibt aber zunehmend neue Wanderwege, die innerhalb von mehreren Tagen und Wochen bewältigt werden. Es gibt viele Höhenwege, Rundwanderwege, Pilgerwege, Talwege und viele Fernwanderwege. Der bereits erwähnte Jakobsweg nach Santiago de Compostela ist sicher der bekannteste Fernwanderweg. Von der französisch-spanischen Grenze bis Santiago sind es 800 km. Man benötigt 30 bis 35 Tage. Das sind dann 22 bis 26 km pro Tag. Über 300.000 Menschen machen jedes Jahr den „camino“, diesen Pilgerweg, der 1993 in das UNESCO-Welterbe aufgenommen und 1987 vom Europarat zum ersten europäischen Kulturweg erklärt wurde. Entlang des Weges gibt es viele günstige Unterkünfte in kirchlichen und gemeindeeigenen Pilgerstätten. Es gibt außerdem private Unterkünfte, Restaurants und Hotels. Wie die Karte zeigt, gibt es in Europa sehr viele Jakobswege und andere Pilgerwege. Der Franziskusweg und der Benediktsweg sind zwei weitere Pilgerwege in Italien, welche an das Wirken des Hl. Franziskus und des Hl. Benedikts erinnern. Der Franziskusweg (via francigena) beginnt eigentlich in Canterbury in England und führt bis nach Rom. Recht bekannt sind die rund 22 Etappen von La Verna in der Toscana über Assisi bis nach Rom. Recht bekannt bei uns ist der Meraner Höhenweg und seit ein paar Jahren auch der Vinschger Höhenweg. Ganz neu ist der „Ortler Höhenweg“ im Stilfserjoch Nationalpark, ein anspruchsvoller Weg für geübte Bergwanderer, bestehend aus 7 Tagesetappen. Im Obervinschgau gibt es auch einen neuen Rundwanderweg, den „360° Obervinschgau“, ein Wanderweg mit neun Etappen durch die Obervinschger Dörfer. In der Planungsphase befindet sich der „Marmor-Rundweg“. Von der europäischen Wandervereinigung sind seit 1969 insgesamt 12 Fernwanderwege eingerichtet worden (E1 bis E12). Es ist ein völkerverbindendes Netz von Weitwanderwegen durch ganz Europa. Der E1 geht vom Nordkap bis nach Sizilien (7.000 km lang). Der E5 beginnt in Pointe du Raz in der Bretagne (Frankreich) führt durch unser Land bis nach Venedig (insgesamt 3.050 km). Allein der Abschnitt von Konstanz bis Verona besteht aus 30 Tagesetappen. Kernstück dieser Alpenüberquerung sind die 13 Etappen von Obersdorf bis Meran. Ein weit verzweigtes Netz an Wanderwegen mit insgesamt 342 Tagesetappen gibt es auf der „Via Alpina“ zwischen Triest und Monaco. Der „Rote Weg“ auf der Via Alpina besteht aus 161 Etappen und durchquert alle acht Alpenländer: Italien, Slowenien, Österreich, Deutschland, Liechtenstein, Schweiz, Frankreich, Monaco. Das Auto hat dem Menschen eine ungeahnte Mobilität ermöglicht. Andererseits hat das Auto den Menschen zu einem Lebensstil gedrängt, das auch seine Schattenseiten hat. Verkehrsprobleme sind eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Das Wiederentdecken des Wanderns, besonders von Fernwanderungen ist ein Gegentrend. Jeder, der eine Woche von Hütte zu Hütte gewandert ist und dabei ganz intensiv die Landschaft, das Wetter und den eigenen Körper gespürt hat, weiß dass das Leben aus ganz einfachen Fragen bestehen kann: wie wird das Wetter, wo geht der Weg, wie geht es meinem Körper, wo kann ich essen und übernachten? Alle anderen Fragen des Alltags, der Welt und der Politik treten in den Hintergrund. Das kann sehr befreiend und erholend sein.
Heinrich Zoderer

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