Dienstag, 07 August 2012 00:00

Nationalpark Stilfserjoch: Überlebenskünstler – Pionierbesiedler auf Gletschervorfeldern

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Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Dominikus, 8. August 2012

RZ_DSC_2480Die Erstbesiedlung von Gletschervorfeldern durch Pionierpflanzen ist für die vegetionskundliche und alpinökologische Forschung eine interessante und faszinierende Fragestellung. Ähnliche Situationen mit anderen Rahmenbedingungen von Hitze statt von Kälte gibt es auf erkalteten Magmen nach Vulkanausbrüchen. Welche Pflanzen siedeln als erste auf diesen Rohböden nach der Auseisung oder nach der Abkühlung? Sind die Sporenpflanzen schnellere Erstbesiedler als die Blütenpflanzen? Wie lange dauert es in Jahren, bis aus einer offenen und lückigen Erstbesiedlung eine geschlossene Vegetationsdecke entsteht?
Einige Pioniere unter den Blütenpflanzen stelle ich im heutigen Beitrag auch im Bild vor.

 

Extremstandort
Das erst seit kurzem eisfrei gewordene Vorfeld eines Gletschers ist ein Extremstandort: Die für die Pflanzen nutzbare Vegetationszeit ist auf wenige Hochsommerwochen beschränkt. Der Boden kann bis 9 Monate gefroren bleiben. Eine Humusauflage ist noch nicht ausgebildet. Selbst im Sommer kann es zu Kälteeinbrüchen mit Frosttemperaturen kommen. Der Anteil der Ultraviolettstrahlung im Sonnenlicht ist lebensfeindlich hoch.
Die Pflanzen sind in der Regel im Gegensatz zu den Tieren standortgebunden und können ihren Standplatz bei ungünstigen Bedingungen nicht einfach wechseln wie die beweglichen Tiere. Um dauerhaft zu überleben, müssen sich Pflanzen also sehr eng an die jeweiligen Standortbedingungen anpassen.

RZ_DSC_0785RZ_DSC_2494Spezialisten
Wer auf dem Gletschervorfeld siedelt und überlebt, ist ein Höhenspezialist der Kälteresistenz. Am anderen Ende der Skala von Überlebensstrategen in der einheimischen Flora befinden sich  beispielsweise einige trockenresistente Pflanzen als Hitzespezialisten der Vinschger Leiten. Diese sonnexponierten Leitenpflanzen müssen hohe Temperaturen an der Bodenoberfläche und oft lange Trockenperioden überstehen. In den niederschlagslosen Perioden während der Vegetationszeit müssen die Pflanzen der Leitensteppe ihre Wasserverluste durch Verdunstung über die Blätter und die oberirdischen Pflanzenteile extrem drosseln können, um nicht den Dürre-Tod zu erleiden.

Botanische Forschung
Zur Besiedlungsabfolge, in der botanischen Fachsprache pflanzliche Sukzession genannt, gibt es eine Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen für die verschiedensten Habitate auf der Erde. Zur Ökologie der Gebirgspflanzen in den Alpen wurde an der Universität Innsbruck im Laufe der letzten 50 Jahre eine bedeutende Anzahl von Untersuchungen durchgeführt. Und durch die Publikation dieser Forschungsergebnisse hat sich die Universität Innsbruck in diesem Forschungsbereich auch international einen sehr guten Namen erworben.
Im lombardischen Teil des Nationalparks Stilfserjoch hat die Botanikerin Prof. Nicoletta Cannone (vormals Universität Ferrara, jetzt Universität Varese) die pflanzlichen Pioniere unter den Blütenpflanzen im Gletschervorfeld zu einem ihrer Untersuchungsgebiete gemacht. Sie hat unter anderem herausgefunden, dass am Gletschervorfeld des Sforzellina- Gletschers,  am Gavia-Pass an der Provinzgrenze zwischen Sondrio und Brescia gelegen, nach weniger als einem Jahr nach der Auseisung bereits acht Arten von Blütenpflanzen und eine Moos-Art gedeihen. Der Deckungsgrad der Vegetation beträgt dabei weniger als 1 % der Bodenfläche und erreicht nur stellenweise bis maximal 14 %. Häufig ist zu beobachten, dass die Pionierpflanzen sich an Steine schmiegen und das Mikroklima nutzen: Steine speichern die Wärme der Sonne und geben sie langsamer ab als die Umgebungsluft. Dadurch wirken diese Steine wie körperwärmende Bettflaschen.

RZ_DSC_0810RZ_DSC_0786Geschwindigkeitsrekordler
Auf Flächen, die vor 6-11 Jahren eisfrei geworden sind, wachsen bereits mehrere Arten von Moosen als sporenbildende Pflanzen und 12 Arten von Blütenpflanzen. Zu den dominierenden Arten gehören der Alpen-Petersbart oder die Kriechende Bach-Nelkwurz (Geum reptans) und das Einblütige Hornkraut (Cerastium uniflorum). Auch der auffällig rot blühende Gegenblättrige Steinbrech (Saxifraga oppositifolia) zieht als Polsterpflanze ein. Der Deckungsgrad der Vegetation liegt bei 2-3 %
der Bodenfläche, lokal bei bis zu 35 %. 
Flächen, die vor mindestens 25 Jahren eisfrei wurden, sind gekennzeichnet von fleckenartiger Vegetation mit relativ hohem Deckungsgrad. Neben dem Alpen-Petersbart und dem Hornkraut ist der Alpen-Säuerling (Rumex scutatus) eine Charakterart dieses Besiedlungsstadiums.
Flächen, welche vor mehr als 80 Jahren ausgeeist sind, sind vegetationskundlich charakterisierbar als Anfangsstadium von alpinen Rasengesellschaften mit wechselnder Artenzusammensetzung auch durch zunehmende Wurzelkonkurrenz von konkurrenzstarken zu konkurrenzschwachen Arten. Der Deckungsgrad
der Vegetation liegt zwischen 60 und
90 % der Bodenfläche.

Was heißt Klimax-Gesellschaft?
Die Endgesellschaft in der pflanzlichen Abfolge der Arten für den jeweiligen Lebensraum wird in der botanischen Fachsprache Klimax-Gesellschaft genannt. Oberhalb der Baumgrenze und des Zwergstrauch-Gürtels in den Alpen bilden die alpinen Rasen-Gesellschaften diese End- oder Klimax-Gesellschaft. Auf sauren Böden ist die dominante Art dieser Rasen-Gesellschaft die Krummsegge, ein Sauergras mit dem wissenschaftlichen Namen Carex curvula. Nach dieser Leitart wird diese Rasen-Gesellschaft in der wissenschaftlichen Bezeichnung daher als Caricetum curvulae oder Curvuletum bezeichnet. Der
Deckungsgrad der Vegetation beträgt 80%.

RZ_DSC_2516Respekt und Verantwortung
Vor dem Hintergrund, dass es über 80 Jahre dauern kann, bis sich im Hochgebirge eine annähernd geschlossene Pflanzendecke aus krautigen Pflanzen bildet, müssen wir in unserem Freizeitverhalten auch bereit sein, unsere Trendsportarten wie etwa Mountainbike oder Down Hill-Abfahrten im freien Gelände und ihre Folgen für sensible Lebensgemeinschaften in den Bergen kritisch zu hinterfragen. Wir müssen uns bewusst machen, dass die Heilung einer Erosionswunde in den alpinen Rasen eine Heilungsdauer hat, die einem 80 Jahre währenden Menschenleben entspricht.


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