Schnals
von Georg Mühlberger, Bozen
Im Sterberegister der Pfarre Unser Frau in Schnals findet sich zum 21. Juli 1942 folgender Vermerk zum Tod eines Mannes namens Johann Spechtenhauser aus Unser Frau:1
Er wurde von einem 18jährigen Grenzmilizler ohne Grund erschossen.
Die ältere Bevölkerung bewahrt diesen Vorfall, der sich im Pfossental bei Mitterkas zugetragen hat, im Gedächtnis bis heute. Aber die Zahl derer, die noch davon wissen, wird immer kleiner. Die Suche nach dokumentarischen Nachweisen des Vorfalls hat eigentlich gar nie begonnen und jedenfalls bis heute kaum Erfolg gehabt.2 Die Geschichte, die sich vor genau 70 Jahren zugetragen hat, verdient es, dem Dunkel des Vergessens entrissen zu werden, denn es handelt sich offensichtlich um die Geschichte eines Unrechts. Eines Unrechts, das sich in der Einsamkeit eines Gebirgstales zugetragen hat. Eines Unrechts, das ein unbeteiligtes Leben ausgelöscht hat. Warum? Ist der Verdacht begründet, dass es aus der Anmaßung, aus der Willkür menschenverachtender Gewaltausübung geschehen ist, zu der das faschistische Italien seine Exekutive ermächtigt hat?
Wir schreiben das Jahr 1942. Südtirol, 1919 von Italien als Kriegsgewinn annektiert, wird nach dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland 1938 unmittelbarer Grenznachbar des Deutschen Reiches. Hitler und Mussolini sind seit 1939 im Stahlpakt miteinander verbündet. Das faschistische Italien misstraut dem expandierenden Deutschland und ist seit 1938 dabei, seine Nordgrenze in Südtirol durch die Errichtung des Vallo Alpino, eines gewaltigen Befestigungswerkes, zu sichern. Es ist Dienstag, der 21.Juli 1942, vermutlich früh am Tag, als Johann Spechtenhauser, im Tal Jochenweber Hans genannt, von der Alm Mitterkas aufbricht, um die im Almgebiet weidenden Schafe zu „salzen“. Dafür hat er wohl im Rucksack oder in der sogenannten Miettasche die benötigte Menge Lecksalz bei sich, das er in sorgsamer Hirtenpflicht – üblicherweise werden je zwei Hände voll gegeben - unter den Schafen verteilen will. Er muss von Mitterkas zuerst westwärts, dann nordwärts noch höher ansteigen, ein Stück den Bach entlang, dann rechter Hand dem Bachgraben ausweichend und in Richtung Pfaßer Scharte hinauf bis zu den Hängen, wo die Schafe weiden. Es ist Hochsommer und die Schafe suchen ihre Weideplätze bis in höhere Lagen. Ganz oben am Kamm verläuft die Staatsgrenze.
Irgendwo auf diesem Anstieg, den der 72-jährige Junggeselle Johann Spechtenhauser in gewohntem Schritt beginnt, irgendwo in dieser stillen, einsamen, archaischen Welt, die seit Jahrtausenden den Kreislauf der Jahreszeiten mit den bescheidenen wirtschaftlichen Möglichkeiten der Gegend bewältigt, irgendwo oberhalb von Mitterkas auf etwa 2300 m Höhe zerreißt ein Schuss das trügerische Bild des Friedens mit den blühenden Almböden und den darauf weidenden Schafen. Ein Schuss, der nicht aus einem Jagdgewehr stammt.
Ob Johann Spechtenhauser jemals eine Bekanntschaft mit den politischen Ereignissen in der Welt gemacht hatte? Ja, vielleicht, drei Jahre zuvor, 1939, als man sich entscheiden musste zu bleiben oder zu gehen, wie es das Aussiedlungsabkommen für die Südtiroler Bevölkerung wollte, das Hitler und Mussolini vereinbart haben. Als ihn die Schüsse treffen, macht der Hirte, ohne es zu begreifen, die Bekanntschaft mit dem Faschismus, mit dem in der Welt tobenden Krieg, mit der Vernichtung des Respekts vor dem Leben, mit entmenschlichten Milizen, denen das politische System den Freibrief zum Töten gibt, mit der aus dem Wahn nationalistischer Anmaßung erwachsenen Lust an der Zerstörung all dessen, was nicht italienisch ist.
Was sich genau zugetragen hat, ist nicht durch Zeugenaussagen belegt. Der Jagdaufseher Alois Kofler († 1958) soll, als er den Schuss gehört hat, nach dem Rechten gesehen haben und dem Sterbenden zu Hilfe geeilt sein. Wir wissen nicht, wer der oder die Urheber der Tat waren, die nichts anderes als ein Mord gewesen sein kann. Johann Spechtenhauser war Hirte. Er lebte von den Schafen, wie es im Schnalstal seit Jahrhunderten üblich war, wo die Transhumanz bis nach Vent im Ötztal nach alter Weiderechtsordnung gepflegt wurde. Der Hirte besaß keine Waffe. Er wollte, weil es wieder fällig war, seine Schafe „salzen“. Er war schon betagt, aber doch rüstig genug, um den Weg ins Steilgelände zu bewältigen.
Hat er Anlass gegeben, dass der Grenzmilizler (sie waren laut üblicher Dienstvorschrift sicher mindestens zu zweit) auf ihn geschossen hat? Hat er vielleicht auf den Zuruf in italienischer Sprache, die er sicher nicht beherrschte, nicht geachtet? Oder hat er ihn, schwerhörig, wie er gewesen sein soll, gar nicht gehört? Widersetzlichkeit gegenüber Bewaffneten ist unwahrscheinlich. Noch lebende Ohrenzeugen der Schüsse, Karl Rainer aus Unser Frau, der auf der Alm als Hütbub beschäftigt war, und seine Schwestern Josefine und Katharina bestätigen, es habe zwei Schüsse gegeben.
Hatte der erste Schuss schlecht getroffen? Befanden sich also Schütze und Opfer in größerer Entfernung voneinander? Wurde der Schuss, wie man vermutet, vom Damm aus abgefeuert, der den Bachlauf von den Mitterkaser Weideböden trennte und als Gewehrauflage für einen gezielten Schuss dienen konnte? Hat der Hirte in seinem bereits begonnenen Aufstieg der Aufforderung, stehenzubleiben oder sich zu stellen, nicht Folge geleistet? War damit für die Miliz der Vorwand gegeben zu schießen, wollten sie ein Exempel statuieren, oder ging es dem jugendlichen Milizler vielleicht gar nur darum, die Treffsicherheit zu erproben?
Wie es sich tatsächlich zugetragen hat, können wir im Einzelnen nicht rekonstruieren. Allfällige Zeugen, wie der oben erwähnte Jagdaufseher Alois Kofler, sind nicht mehr am Leben. Das, was in der Erinnerung der Geschwister Rainer und im Gedächtnis der Schnals-taler Bevölkerung bewahrt ist, bestätigt sich als schwerer Verdacht: Es war Mord. Daran ändert nichts, dass sich die näheren Umstände im Dunkel der Geschichte verlieren: Es findet sich kein Protokoll zu diesem Vorfall, auch sonst gibt es anscheinend nirgendwo eine Notiz, geschweige denn einen Bericht in der geknebelten Lokalpresse. Von einem Prozessverfahren in Bozen, von dem Zeitzeugen im Tal noch wissen, haben sich bisher keine Gerichtsakten gefunden. So gibt es nur den eingangs erwähnten Vermerk im Sterberegister der Pfarre Unser Frau, der ein historisches Dokument ist, - und es gibt ein Sterbebild von der Beerdigung des Hirten, auf dem die Todesumstände im Text vorsichtig verschleiert sind:
„Christliche Erinnerung zum Gebete für die Seele des Jünglings Johann Spechtenhauser, welcher am 25. Juni 1870 in Unserfrau (Schnals) geboren und am 22. Juli3 1942 bei Ausführung seiner treuen Hirtenpflicht plötzlich verschieden ist. Er ruhe in Frieden!“
1 Johann Spechtenhauser war wohnhaft in Mitterreindl 51. Sein Vater hieß ebenfalls Johann, seine Mutter Maria Gstrein.
2 Überliefert ist ein Bericht dazu, enthalten in der Publikation: Rudolf Baur, Die Kartause Allerengelberg im Schnalstal, Bozen 1970, Seite 81. Rudolf Baur war nach dem 2.Weltkrieg Pfarrer in Karthaus.
3 Das auf dem Sterbebild angegebene Datum des Todes stimmt nicht ganz. Wie im Sterbebuch der Pfarre Unser Frau und nachträglich auch im Taufbuch festgehalten, war es der 21.Juli 1942.
Der Schnalser Kamm
Die italienisch- österreichische Grenze verläuft im Pfossental seit 1920 über den 3000 m hohen Schnalser Kamm, auf dessen Nordseite sich riesige Gletscher ausdehnen, so auch der Gurgler Ferner. Auf dem Bild sichtbar ist die Hintere Schwärze (3634m), die Roten Spitze (3393m) und die Karles Spitze (3393).
Das Pfossental bohrt sich durch gewaltige Gebirgsmassen; der Name wird abgeleitet aus der vorrömisch-romanischen Wurzel „rovena“ und bedeutet „Gelände mit vielen Geröllhalden“. Übergänge gibt es nur über das 2872 m hohe Eisjöchl ins Pfossental in Richtung Passeier und in Richtung Vinschgau über das 2900 m hohe Grubjöchl ins Zieltal nach Partschins. Demnächst soll unter der Roten Spitze im Talgrund bei der Mitterkaseralm ein Erinnerungszeichen, ein Bildstöckl für den erschossenen Schäfer aufgestellt werden.