Die Grenzpendlerzahlen brachen ein (siehe Grafik). „Grenzpendler zu sein, war nicht immer ein Honigschlecken“, so Pircher. „Und außerdem geben Grenzpendler ihr Geld hier aus und beleben so die hiesige Wirtschaft.“ Unterschiedliche Bestimmungen im Arbeitgeber- und im Arbeitnehmerland machten den Pendlern Jahrzehnte lang zu schaffen. Sie standen rechtlich in vielen Belangen zwischen den Grenzen. Der Ruf nach verbindlichen Regelungen und Abkommen auf politischer Ebene wurde laut. Die Verantwortlichen im KVW und speziell der Arbeitsstelle für Heimatferne nahmen sich der Probleme an und luden 1972 zur ersten Grenzpendlertagung in Glurns. Die Zahl der Grenzpendler betrug damals rund 430.
Themen der ersten Tagung waren Probleme mit der Krankenversicherung, mit der Rentenversicherung, mit der Doppelbesteuerung und den Grenzübertritten. Ungeklärt war beispielsweise die Situation der Wochenpendler und zwar für den Fall, dass sie am Wochenende in Südtirol krank wurden. Weder die Krankenkasse in der Schweiz noch jene in Italien fühlten sich zuständig. Geklagt wurde über die schleppende Abwicklung der Rentengesuche. Dazu bemerkte der Bezirkssekretär Luis Gamper im Protokoll, „dass die ausländischen Stellen um kein Haar besser sind.“ Als ungerecht wurde die Doppelbesteuerung empfunden. Grenzpendler zahlten in der Schweiz und in ihrer Heimatgemeinde. Geklagt wurde auch über Unannehmlichkeiten bei Grenzübertritten. Um die Anliegen schriftlich zu dokumentieren, wurden bei den Tagungen regelmäßig Forderungen verfasst und den politischen Stellen diesseits und jenseits der Grenze übergeben. „In den 40 Jahren haben wir bei den Grenzpendlertagungen unzählige Resolutionen erstellt, die teils immer wieder auf dieselben, teils auf neue Probleme hingewiesen haben“, erinnert sich der Sprecher der Grenzpendler Josef Trafoier. „An Nachdruck hat es dabei nie gefehlt und laufend hat sich dann auch etwas bewegt“.
Die 40 Jahre Grenzpendlertagung ließ der Vorsitzende der „Südtiroler in der Welt“ (früher Arbeitsstelle für Heimatferne) Erich Achmüller Revue passieren, mit interessanten und kuriosen Details. Dokumentiert ist zum Beispiel eine Seelsorger-Tagung im Dekanat Mals 1974, bei der sich die Pfarrer um das Seelenheil der Grenzpendler sorgen. Sie befürchteten eine „religiöse Entfremdung“ und eine „Entfremdung von der Familie“. Die Grenzpendler kümmerten sich kaum um diese Bedenken. Wichtiger war ihnen der Arbeitsplatz und die soziale Absicherung, mit der es nur langsam voranging. 1976 wurden erste Forderungen der Grenzpendlertagung erfüllt: Es kam zum Sozialversicherungsabkommen zwischen Italien und Lichtenstein, was erfreulich für 200 Südtiroler in Lichtenstein war, von denen 86 aus Matsch stammten. Und die Bezieher einer schweizerischen oder österreichischen Rente mit Wohnsitz in Südtirol erhielten erstmals Anrecht auf Krankenbetreuung in Südtirol.
In Sachen Doppelbesteuerung kam mit der Ratifizierung des Lohnsteuerausgleichsabkommen 1979 zwischen Italien und der Schweiz Bewegung. Doch neue Schwierigkeiten ergaben sich durch die italienischen Devisenbestimmungen. Wie absonderlich diese waren, ist im Protokoll von 1979 beschrieben: „Grenzpendler mit Wohnsitz in Italien dürfen im Ausland kein Konto unterhalten. Sie müssen die ausländische Währung nach Italien bringen und innerhalb 30 Tagen einwechseln. Denn es ist untersagt, ausländische Währung länger zu Hause aufzubewahren.“ Inwieweit sich die Angesprochen daran gehalten haben, ist nicht bekannt. 1980 wurde der Lohnsteuerjahresausgleich wirksam. Die Grenzpendler zahlten nur noch einmal Steuern und zwar in der Schweiz und diese überwies Gelder an Italien. Für die Jahre 1974-1979 flossen rückwirkend 432.912.350 Lire in den oberen Vinschgau. Das bedeutete 894.447 Lire pro Grenzpendler für die jeweilige Heimatgemeinde. Seither fließen die Gelder. Im Zeitraum 1980 bis 2009 konnte die Bezirksgemeinschaft Vinschgau 7.466.174 Euro an die Heimatgemeinden der Grenzpendler verteilen (siehe Grafik).
Thema einiger Grenzpendlertagungen und Resolutionen war das Arbeitslosengeld. Bis 1975 hatten Grenzpendler kein Recht darauf. Danach gab das gewöhnliche Arbeitslosengeld (800 Lire pro Tag). Seit 1977 zahlen die Grenzpendler Beiträge an die Schweizer Arbeitslosenversicherung. Doch das Schweizer Gesetz sieht nur eine Auszahlung bei Arbeitsverkürzung vor und nicht bei Entlassung. Italien erhob daraufhin Anspruch auf Rückerstattung der Gelder und erhielt 1981 neun Milliarden Lire überwiesen, die aber zurückgehalten wurden. Die Tagung 1983 stand deshalb im Zeichen des Protestes und einer Petition an das italienische Parlament. Ein Jahr später kam grünes Lich für die Auszahlung des Sonderarbeitslosengeldes. Das Problem war allerdings, dass es nur ausbezahlt werden konnte, wenn jemand aus „ökonomischen Gründen“ entlassen worden war. Und das war bei den Saisonsarbeitern nicht der Fall. Erst 1988 konnte eine Lösung gefunden werden. Seit 1992 sind Grenzpendler und Saisonarbeiter in der Schweiz den Arbeitnehmern in Südtirol gleichgestellt.
Bei der 27. Tagung 1999 stellte Trafoier fest, „dass die Probleme der Grenzpendler größtenteils gelöst sind.“ Seither haben die Tagungen weniger kämpferischen als viel mehr informativen und geselligen Charakter. Zum 40. wurde nicht nur Bilanz gezogen, sondern auch bei heiteren Einaktern gefeiert.