Um es vorweg zu nehmen: Ich bin für die Verabschiedung eines umsetzbaren Managementplanes für den Wolf und für den Erhalt der Almwirtschaft, die ein wesentlicher und bedeutsamer Teil der viehhaltenden Berglandwirtschaft ist.
In meinem heutigen Aufsatz möchte ich die Biologie des Wolfes und sein Sozialverhalten ein Bisschen beleuchten und damit einen Beitrag zu objektivierendem Wissen versuchen. Ich bediene mich dabei des Buches von Elli H. Radinger „Die Weisheit der Wölfe“, welches 2017 im Ludwig-Verlag erschienen ist. Elli Radinger hat in den letzten 20 Jahren in den USA, in Kanada und in Deutschland mehr als 10.000 Wolfssichtungen erlebt und den Wolf im Freiland intensiv beforscht und beobachtet.
Beim Wolf bedeutet Familie alles
In den letzten Jahrzehnten war das soziale System der Wolfsrudel im Fokus zahlreicher Studien von Biologen und Psychologen. Bei den Wölfen dreht sich alles um die Familie. Sie ist ihre Basis, Sicherheit, Stabilität. Mit zahlreichen gemeinsamen Ritualen vermitteln Wölfe im Rudel einander Beständigkeit und Verlässlichkeit. Ebenso wie die individuellen Wölfe haben auch Wolfsfamilien eine Art Gruppenpersönlichkeit. So werden manche Rudel beispielsweise durch selbstherrliche Herrscher oder verdrießliche Individuen geprägt.
Bei den Wölfen funktioniert Erziehung nach der laissez- faire-Methode: Dem Jungwolf wird nichts verboten, er darf eigene Erfahrungen machen und lernt dabei, dass jedes Verhalten Konsequenzen hat. In einem unterscheidet sich die Erziehungsmethode der Wölfe von der vieler menschlicher Eltern: Die kleinen Wölfchen haben keine Chance, die Eltern gegeneinander auszuspielen. Alle sind an der Disziplinierung des Nachwuchses beteiligt. Bei der Aufzucht kümmert sich die ganze Familie um den Nachwuchs. Während die Welpen im Bau noch gesäugt werden, bringen der Vater und die älteren Geschwister der Mutter Futter. Später versorgen alle Familienmitglieder die Sprösslinge, indem sie ihnen vorverdautes Fleisch hervorwürgen. Wolfsväter sind absolut verrückt nach ihren Kindern. In einer Wolfsfamilie ist jedes einzelne Mitglied wichtig und hat seinen Platz, an dem es gebraucht wird. Es gibt schnelle Hetzer bei der Jagd, kräftige Spurenbrecher im hohen Schnee und besonders geduldige Babysitter im Bau.
Im Wolfsrudel orientieren sich alle Mitglieder an den erfahrenen Leittieren. Besonders bemerkenswert ist auch das ausgeprägte Sozialsystem: Wölfe kümmern sich fürsorglich um Kranke und Verletzte in ihrem Rudel. Nahrung das ganze Jahr hindurch herbeizuschleppen und die anderen Familienmitglieder auch im Krankheitsfall zu versorgen, sind Eigenschaften, die man ausschließlich bei Menschen und bei Wölfen beiderlei Geschlechts findet. Schimpansen scheinen auf dem ersten Blick dem Menschen ähnlicher zu sein als Wölfe. Aber Primatenmännchen helfen nicht, die Jungen zu füttern oder die Alten zu versorgen. Elli Radinger ist der Meinung, dass diese Verhaltensanalogie zwischen Mensch und Wolf der Grund ist, mit Wölfen seit der Steinzeit das Leben zu teilen und weshalb es zur frühen Domestikation vom Wolf zum Hund gekommen ist.
Das Erfolgskonzept einer jeden Wolfsfamilie beruht auf drei Säulen: erstens der Konzentration auf das Wesentliche, d.h. alle arbeiten zusammen zum Wohle der Familie, zweitens der ständigen Kommunikation sowie gemeinsamen Ritualen und drittens einer starken Führung.
Führung nach dem Wolfsprinzip
„Du musst nicht immer der Boss sein“, so könnte laut Radinger die Devise in der Wolfsfamilie umschrieben werden. Ihre Beobachtungen ergaben ein vorbildliches Führungsverhalten. Kein Dominieren, kein „Plattmachen“, keine Aggression, sondern stille Autorität und die Übernahme von Verantwortung. Wichtig für die Führung einer Wolfsfamilie ist Erfahrung. Eine Studie zeigt, dass die Anführer in einer Wolfsfamilie diejenigen sind, die am meisten Stress haben. In ihrem Kot fand man das Hormon Glukokortikoid, das bei Langzeitstresssituation ausgeschüttet wird.
Führung ist weiblich. Eine Wolfsfamilie braucht keine Frauenquote. Wichtige Entscheidungen trifft das Leitpaar grundsätzlich gemeinsam, wenngleich sich im Zweifelsfall die Wolfsfamilie, einschließlich des Leitrüden, am Leitweibchen orientiert. Die Rüden haben damit kein Problem. Die Leitpaare bleiben im Allgemeinen ein Leben lang zusammen. Leitwölfe sind auch nicht in jeder Situation souverän. Natürlich können sie durchaus einmal unsicher reagieren. Das schadet ihrem Ansehen im Rudel aber nicht.
Wölfe und Frauen
Wie oben dargestellt, entscheiden in einer Wolfsfamilie zwar die Eltern gemeinsam, die wirklichen Entscheidungen jedoch – beispielsweise wie, wann und wo man jagt oder wo die Geburtshöhle gegraben wird – so Elli Radinger – werden beim Menschen und beim Wolf vom ranghöchsten Weibchen getroffen.
Die Wolfswelt ist eine Frauenwelt. Die meisten Menschen-Frauen waren bei der Begegnung mit den Wölfen furchtlos. Der große deutsche Wolfsforscher Erich Zimen meint: Beide, die Wölfe und die Frauen sind in der Geschichte vordergründig die Unterdrückten. In Wirklichkeit aber sind sie die Starken.
Betrachten wir die Rolle der Frau bei der Domestikation des Wolfes, denn ohne sie gäbe es aller Wahrscheinlichkeit nach noch heute keine Hunde. Hätte ein Mann vor vielen Jahren auch einen Wolfswelpen auf sich prägen können? Radinger meint mitnichten. Denn dazu gehörte die Fütterung mit Milch, und die gab es in einer Zeit ohne Haustiere nur bei der Frau. Schafe, Rinder, Ziegen und Schweine wurden erst nach dem Wolf domestiziert. Es muss also eine Frau gewesen sein, die eines Tages einen jungen Wolfswelpen zu sich nahm und ihm die Brust gab.
Interessant ist auch die geschlechterspezifische Einstellung von Männern und Frauen zu den Wölfen. Als alle neun Wölfe aus dem Beobachtungs- und Forschungsgehege von Erich Zimen im Bayrischen Wald ausgebrochen waren, löste diese Wolfsflucht bei vielen Männern die Forderung und Reaktion der sofortigen Entfernung aus. „Weg mit ihnen“, „Kein Platz bei uns“. Dagegen baten Frauen in den Medien, die Wölfe leben zu lassen.
Von Menschen und Wölfen.
Eine schwierige Beziehung zwischen Liebe und Hass
Es gibt den Wolf, wie ihn die Wissenschaft beschreibt, aber es gibt auch den Wolf, der in den menschlichen Köpfen ist, eine Konstruktion, geschaffen von unserer individuellen, kulturellen und sozialen Konditionierung. Vorurteile sind eine zutiefst menschliche Eigenschaft und fest in unserem Gehirn verankert. Dabei haben sie nichts mit der Realität zu tun. Sie sind im Grunde ein Trick des Gehirns, um bei der Informationsverarbeitung in der Reizüberflutung Energie zu sparen. Vorurteile sind komplex und vielfältig und daher schwer abzubauen. Negative Erfahrungen machen es schwer, einen Kompromiss zwischen menschlichen Interessen und tierischem Artenschutz zu finden. Der symbolische Status des „bösen Wolfes“ ist dermaßen in den Köpfen der Menschen verhaftet, dass biologische Fakten oft irrelevant sind. Reale Zahlen beispielsweise darüber, ob und wieviele Menschen durch Wölfe getötet wurden. In Europa sind in den letzten 50 Jahren neun Menschen durch Wölfe getötet worden: fünf durch an Tollwut befallene Tiere und vier Kinder in Spanien, die in der Nähe eines Dorfes gespielt hatten, wo die Wölfe gefüttert worden waren.
Die Angst vor dem Wolf war einer der Hauptgründe für die Vernichtung ganzer Populationen. Die Furcht der Menschen vor dem Wolf ist tief in unsere Gene eingegraben. Dazu kommen eben die Vorurteile und die Intoleranz. Sie sind die Hauptbedrohungen für die Existenz der Wölfe. Die Urdämonen unserer Kindheit lassen niemandem gleichgültig. Weil ihre domestizierten Brüder und Schwestern seit Jahrtausenden als Hunde bei uns im Haushalt leben, sind uns Wölfe so vertraut wie kein anderes Tier. Wir lieben sie, oder wir hassen sie. Sie sind Fremde und somit per se eine Bedrohung. „Wölfe gehören in die Wildnis, der Mensch in die Kulturlandschaft. Beide können nicht zusammenleben“. So zumindest die gängige Meinung. Es folgen absurde Vorschläge, wie beispielsweise jener, die Wölfe in ein Naturschutzgebiet zu bringen und „irgendwie“ dafür zu sorgen, dass sie dort auch bleiben. Aber dem Wolf ist der Unterschied zwischen Wildnis und Kulturlandschaft einerlei, der uns Menschen so wichtig erscheint. Wölfe sind Kulturfolger und Opportunisten. Sie leben angepasst. Wolfsgegner wollen die Wölfe in die Natur zurückverweisen. Wolfsfreunde sind der Auffassung, dass Wölfe und Menschen Teil der Natur sind. Unsere Gesellschaft hat eine Art Kontrolle über die Natur übernommen, die noch vor einem Jahrhundert undenkbar gewesen ist. Menschen wollen keine Wildnis, sie wollen Sicherheit. In einer Kultur, die davon besessen ist, alles zu kontrollieren, was in unserer Umgebung geschieht, stellen Wildtiere, die uns begegnen, die Kontrollfähigkeit in Frage. Darum sind manche Menschen der Auffassung, man solle alle Raubtiere einfach vernichten. Unsere Vorfahren hätten Wölfe und Bären ausge-rottet, weil sie keinen Platz mehr in der Welt haben. Für andere Menschen symbolisieren dagegen Wölfe eine freie Natur und eine gesunde Umwelt. Für sie sind die großen Kaniden von ultimativem Nutzen. Den Wolf als rein, heilig, ehrlich und authentisch und als Opfer der Zivilisation darzustellen, ist aber ebenso eine falsche Darstellung der Realität. Als Raubtiere töten Wölfe ihre Beute und darunter auch Nutztiere, wenn sie ungesichert sind.
E. Radinger: “Es ist leicht, tiefe Gefühle für ein derart majestätisches Tier wie den Wolf zu empfinden, aber schwierig diese Gefühle mit dem Wissen zu verbinden, dass Wölfe eine Funktion als Topbeutegreifer haben.“ Und weiter „Wir schützen nur was wir lieben, und wir lieben nur, was wir kennen. Daher brauchen wir neben fundiertem Faktenwissen auch eine emotionale Verbindung zu den Wölfen“. „Wölfe wirklich kennenzulernen und sie zu verstehen…, Wölfe zu beobachten heißt auch, Härte Grausamkeit, Blut zerbrochene Knochen zu ertragen“.
Es ist noch ein längerer Weg für uns Menschen, uns mit dem zurückkehrenden Wolf auch in unserer Kulturlandschaft zu organisieren.
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